Gelsenkirchen. . Die meisten Stimmberechtigten in Gelsenkirchen votierten für die Verfassungsänderung. Im türkischen Büyükçekmece sagten 55,7 Prozent „Nein“.

  • Genaue Zahlen zum Abstimmungsverhalten Stimmberechtigter in Gelsenkirchen wurden nicht erhoben
  • In der türkischen Partnerstadt im Großraum Istanbul blieb es nach dem Referendum ruhig
  • Integrationsratsvorsitzende Melek Topağlolu sieht Integration in Deutschland nicht als gescheitert an

Wieviele in Gelsenkirchen lebende Bürger mit türkischem Pass für das Referendum von Reçep Tayyip Erdoğan gestimmt haben, weiß niemand. Nach Auskunft des türkischen Generalkonsulats standen jedem Abstimmungsberechtigten alle Konsulate im Land zur Abstimmung offen, selbst im Urlaub im Ausland durfte die Stimme abgegeben werden. Ausgezählt wurde in der Türkei.

Vermutlich fuhren die meisten Gelsenkirchener nach Essen oder Münster zur Stimmabgabe. Nach Wohnorten differenzierte Auszählungen gebe es jedoch nicht, so das Konsulat auf Anfrage. Revierweit hatten nach offiziellen Angaben 76 Prozent der Türken für das Referendum gestimmt. Deutlich hörbar war in Gelsenkirchen jedenfalls der Jubel der Befürworter nach der Bekanntgabe des Ergebnisses.

Kein überraschendes Ergebnis für die Stadt

In der türkischen Partnerstadt Gelsenkirchens, Büyükçekmece, hingegen stimmten nur 44,3 Prozent für und 55,7 Prozent gegen die Verfassungsänderung. Kein wirklich überraschendes Ergebnis, da in der Stadt im europäischen Teil des Großraums von Istanbul traditionell die oppositionelle CHP, die sozialdemokratische, kemalistische Republikanische Volkspartei, die Mehrheit hat. Auch Bürgermeister Dr. Hasan Akgün gehört ihr an.

Unruhen aufgrund des Sieges der Erdoğan-Anhänger bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung habe es in der Stadt jedoch in keiner Form gegeben, versicherte Esin Mevsim Kiroğlu, Sprecherin der türkischen Stadt, gegenüber der WAZ.

Leiden unter rückläufigem Tourismus

Auch Adem Çukur, stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins für die Städtepartnerschaft, ist derzeit in Büyükçekmece, wo er seit 35 Jahren seinen zweiten Wohnsitz hat; sein erster Wohnsitz ist in Gelsenkirchen. „Hier gab es keine Jubelfahrten wie in Bismarck,“ erklärt er. „Es war alles ruhig. Es ist nicht die ganze Türkei, die jetzt jubelt.“ Unter den Folgen der angespannten Situation im Land leide allerdings auch der Tourismus im schönen Küstenort Büyükçekmece. Eine Spaltung verhindern, stattdessen die Partnerschaft aktiv leben: Dabei will Markus Seidl vom Förderverein helfen. Auch bei der nächsten Vereinsfahrt.

Die Europaabgeordnete Gabriele Preuß (SPD) appelliert, die demokratischen Kräfte in der Türkei nicht fallen zu lassen. „Die türkische Gemeinschaft in Deutschland hat sich mehrheitlich für das Präsidialsystem ausgesprochen. Ich glaube nicht, dass es eine gute Entscheidung für die Türkei und für die EU-Türkei Beziehungen war. Dennoch wäre es kontraproduktiv diese Bevölkerungsgruppe, die ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft ist, nun pauschal zu kritisieren“, erklärte sie. Man dürfe sich das freundschaftliche Miteinander durch Scharfmacher auf beiden Seiten nicht kaputt machen lassen.

Drei Fragen an die Integrationsbeauftragte Topaloğlu

Nach dem Referendum in der Türkei hat die WAZ die Vorsitzende des Integrationsrats, Melek Topaloğlu, zu den Folgen der Abstimmung befragt.

1 Was bedeutet das Votum für die Bürger in der Türkei?

Melek Topaloğlu ist Vorsitzende des Integrationsrates in Gelsenkirchen. Sie fordert, Integration anders aufzuzäumen.
Melek Topaloğlu ist Vorsitzende des Integrationsrates in Gelsenkirchen. Sie fordert, Integration anders aufzuzäumen. © Martin Möller

Das Votum bedeutet zunächst einmal eine Machtverschiebung beziehungsweise eine Konzentration der Macht auf den Präsidenten. Die türkischen Bürger sind gespalten und die Gegner des Referendums werden es künftig noch schwerer haben als zuvor, ihre Meinung kundzutun. Insgesamt, so glaube ich, wird der Druck von allen Seiten wachsen.

2 Wie wird die Türkei mit der Zweiteilung der Bürgerschaft umgehen?

Die Zweiteilung respektive die Spaltung der Gesellschaft wird für die Propaganda genutzt werden und die daraus resultierende Unruhe als Rechtfertigung für die Verfassungsänderung.

3 Ist die Integration hier gescheitert, wie viele es jetzt aus der Abstimmung ableiten?

Die Integration in Deutschland ist nicht gescheitert, sondern muss anders aufgezäumt werden. Die Wählerstimmen sollten dabei genauer betrachtet werden. Von den 1,4 Mio wahlberechtigten türkischstämmigen Deutschen haben rund 46 Prozent – also etwa 661 000 Personen – gewählt. Mit Ja gestimmt haben etwa 416 000 der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten. Das bedeutet, dass nur 29 Prozent für ihn gestimmt haben. In Gelsenkirchen haben runtergerechnet von 20 000 – wahlberechtigt sind 40 000 –, 14 000 mit Ja gestimmt. Nüchtern betrachtet, sind es weniger als 50 Prozent der potenziellen Wähler, die für das Referendum gestimmt haben. Wichtig wäre es zu überlegen, wie es möglich ist, diese Leute für die hiesige Politik zu gewinnen und in wichtige gesellschaftliche Prozesse einzubinden. Nur so kann Integration gelingen.