Gelsenkirchen. Die Flüchtlingskrise wird auch in Gelsenkirchen intensiv diskutiert. Zur Situation ein Interview mit Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD).
Die Flüchtlingskrise wird auch in Gelsenkirchen sehr intensiv diskutiert. Was die Bürgerinnen und Bürger bewegt, was aus Sicht der Stadt gut läuft oder auch besser sein könnte, darüber sprach die Redaktion mit Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD, 53).
Herr Baranowski, in der Redaktion mehren sich die Anrufe zum Thema Flüchtlinge. Viele hinterfragen kritisch die Verteilung der Menschen, die aus Syrien zu uns kommen. Wie nehmen Sie das wahr?
Frank Baranowski: Teile der Bevölkerung sind gegen die Aufnahme, andere helfen, wo sie nur können. Der große Teil allerdings beobachtet derzeit und hat sich inhaltlich noch nicht festgelegt.
Was beobachten diese Menschen?
Baranowski: Ich glaube, sie sind grundsätzlich offen für die Annahme von Flüchtlingen. Sie wissen, dass diese Menschen dringend Hilfe brauchen. Sie wollen aber auch eine vernünftige Verteilung erkennen und keine völlige Überbelastung der Stadt und ihrer eigenen, der öffentlichen Lebensbereiche.
Dass in den Schulen Sportunterricht ausfällt, weil Hallen belegt werden? Oder dass Sportvereine in Nachbarstädte ausweichen müssen?
Baranowski: Genau. Aber wir können diese Situation nicht verändern. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich nicht in so kurzer Zeit so viele Flüchtlinge unterbringen wollen. Aber diese Wahl habe ich nicht, haben wir nicht. Das sind Zuweisungen des Landes über einen Verteilerschlüssel. Unsere Aufgabe ist es dann, die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. Das tun wir. Die Dinge verändern sich und sie haben Einfluss auf das alltägliche Leben.
Es ist das Tempo der Zuweisung, das Bürger nachdenklich macht?
Baranowski: Nicht nur, aber auch. Es macht sie nachdenklich und mich auch. Was Bund und Land im Moment fordern, lässt sich immer leicht formulieren. Aber es muss letztendlich in den Städten umgesetzt werden.
Flüchtlinge in DeutschlandKollidieren an dieser Stelle nicht auch zwei Themenbereiche, die der Flüchtlinge und die der Zuwanderer aus Südosteuropa?
Baranowski: Das ist es, was an übergeordneter Stelle nicht beachtet wird. Denn wir reden ja nicht nur über die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge in den Kommunen, sondern auch über die der Zuwanderer.
Wie sehen die aktuellen Zahlen für Gelsenkirchen aus?
Baranowski: Es gibt rund 5500 Zuwanderer aus dem Bereich Südosteuropa. In der aktuellen Flüchtlingswelle sind uns bis zum heutigen Tag 1215 Personen zugewiesen worden. In den Notunterkünften Mehringstraße und Emscher-Lippe-Halle, die ja im Wege der Amtshilfe für das Land NRW von uns betrieben werden, befinden sich rund 450 Bewohner. Darüber hinaus gibt es Asylbewerber aus den Vorjahren, also geduldete Flüchtlinge. Diese Zahl liegt bei 1800. Alles in allem also gut 3500.
Zur Aufklärung: Werden diese 3500 Menschen in Gelsenkirchen bleiben?
Baranowski: Nein. Die, die bleiben dürfen, bringen wir gemäß unserem Konzept in Wohnungen unter. Das kann aber im Moment, wo Wohnraum knapp ist, etwas dauern. Alle, die sich in der Erstaufnahme befinden, müssen zunächst registriert und dann vom Land den Städten zugewiesen werden.
Was geschieht mit den Flüchtlingen, die bleiben dürfen?
Baranowski: Das ist ein schwieriger Teil in der Gesamtbetrachtung. Denn ihnen müssen wir ordentliche Integrationsangebote machen können. Dafür muss es Strukturen geben, dafür muss es aber auch das notwendige Geld geben. Die drei Milliarden Euro, die im Moment vom Bund insgesamt für die Flüchtlingskrise eingeplant sind, sind deutlich zu wenig. Eigentlich müsste man als Stadt es einfach machen und die Aufwendungen in Rechnung stellen. Die Kommunen fordern eine Pauschale für jeden Flüchtling. Eine Arbeitszahl lautet 13.500 Euro pro Person und Jahr. Dann wüssten wir, was unterm Strich benötigt wird. Und es darf nicht durch klebrige Finger gehen...
... mit klebrigen Fingern meinen Sie damit das Land?
Baranowski: Ja. Das Geld muss uneingeschränkt in den Städten ankommen.
Ein Versagen Europas wäre fatal
In Gelsenkirchen mehren sich die Stimmen, die sich wundern, dass jetzt überhaupt Geld da ist, sonst aber oft nicht.
Frank Baranowski: Das kann ich verstehen. Bei der Bankenrettung spielte die Anzahl der Nullen scheinbar keine Rolle. Jetzt wird Geld bereit gestellt, was völlig richtig ist aus humanitären Gesichtspunkten. Aber sonst fehlt es in manchen Städten an vielen Stellen. Dabei wird gerade jetzt wieder einmal deutlich, wie systemrelevant die Kommunen sind. Denn, noch einmal: Alles geschieht hier vor Ort. Nicht im Bund und nicht im Land. Die Botschaften aus Berlin und das Leben vor Ort klaffen zurzeit weit auseinander.
Stoßen wir da nicht in Bereiche der EU-Politik vor?
Das ist in der Tat neben der nationalen eine zentrale europäische Frage. Da ist in Brüssel bisher viel zu wenig geschehen. Als die Euro-Rettung Griechenlands anstand, jagte eine Sondersitzung der Regierungschefs die nächste. Jetzt kommen sie mal nächste Woche zu einem Gipfel zusammen.
Was Sie selbst wie bewerten?
Baranowski: Die Frequenz ist zu gering. Ich glaube, dass die Herausforderung, die jetzt vor uns steht, größer ist als die Frage es war, bleibt Griechenland im Euro oder nicht. Durch das Verhalten der EU-Länder, die Hauptlast bei der Aufnahme von Flüchtlingen tragen ja Deutschland und Schweden, ist meiner Meinung nach die europäische Grundidee in Frage gestellt. Man kann nicht nur Nutzen ziehen. Die Botschaft wäre fatal, würde sie lauten, Europa bekommt das nicht hin. Da ist die Wertegemeinschaft gefordert. Hier muss europäische Außenpolitik greifen. Da kann man als Mitgliedsland nicht einfach seine Grenzen schließen und eine Aufnahme verweigern.
Stichwort Botschaft – wie sieht Ihre für Gelsenkirchen aus in dieser Situation?
Baranowski: Zunächst einmal möchte ich allen, die sich so toll engagieren, dafür meinen Dank aussprechen. Das sind neben den Ehrenamtlichen auch die Mitarbeiter von DRK, THW, der freiwilligen Feuerwehr und der Stadtverwaltung. Außerdem gilt es umso mehr, dass diese städtische Gesellschaft zusammenstehen muss.