Gelsenkirchen. Bedia Torun kam als politischer Flüchtling nach Deutschland. Die heute 58-jährige Lehrerin ist seither ein Aktivposten der Awo-Integrationsarbeit
Ihr größtes Glück, das sind die Menschen, die sie prägten und stark machten, mit ihr lachten, litten, die ihr halfen. Eltern, Familie, Ehemann, Freunde – und an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens eine wildfremde Frau aus Gelsenkirchen, die ihren Pass zur Verfügung stellte, damit Bedia Torun sicher aus der Türkei fliehen konnte.
1986 kam die heute 58-Jährige aus Ankara nach Deutschland. Aus politischen Gründen. Sie war in Folge des Militärputsches 1981 verhaftet worden, saß vier Jahre im Gefängnis. Der Grund? „Ich war zu frech gegenüber den Herrschenden.“ Ihren Willen, gegen Ungerechtigkeit die Stimme zu erheben und hinzuschauen, wo andere den Blick abwenden, vermochten die Gefangenschaft nicht zu brechen. Sie hat in der winzigen Zelle alles getan, ihren Kopf wach zu halten.
Erst elf Jahre nach der Ausreise zu Besuch in der Heimat
Freunde, die bereits in Essen wohnten und eben jene Frau aus Gelsenkirchen kannten, sorgten dann dafür, dass Bedia Torun sicher in den Flieger steigen konnte. „Wir haben nur das Passbild ausgetauscht.“ Sie hat die Frau, die ihr so selbstlos das eigene Personaldokument für die Flucht überlassen hatte, später kennen gelernt. Eine Türkin, „die meine Situation gut nachvollziehen konnte“. Mit Ehemann Kemal Demir wohnte sie erst in Essen, später in Bottrop. Längst hatte sie auch einen deutschen Pass, als sie elf Jahre nach ihrer Ausreise aus der Türkei zum ersten Mal wieder in die Heimat reiste.
Ihr abgeschlossenes Lehramtsstudium verhalf der taffen Frau schnell zu einer Arbeit: Im Bildungszentrum der Awo an der Paulstraße unterrichtete sie Migranten in Türkisch als erste Fremdsprache. Die Treppen zu den Unterrichtsräumen auf der ersten Etage der Paulstraße 4 nahm Bedia Torun die ersten Jahre locker. Bis ein Rückenleiden den nächsten Wendepunkt in ihrem Leben markierte. Die Lehrerin und sozial engagierte Kämpferin für Gerechtigkeit beschreibt diesen Einschnitt heute ohne Anflug von Verbitterung so: „Ich kam an einem Montag ins Krankenhaus; am Mittwoch war ich querschnittsgelähmt.“ Da war sie gerade mal 38 Jahre alt.
Die Bottroper Wohnung war über Nacht völlig ungeeignet geworden. In Gelsenkirchen fand das Ehepaar Torun-Demir eine behindertengerechte Wohnung an der Grenzstraße. Bedia Torun blieb ihrer Arbeit bei der Awo treu. „Das ist mein erster Arbeitgeber in Deutschland.“ Und wohl auch ihr letzter, setzt sie lächelnd hinzu. Sie bekleidet heute eine halbe Stelle in der Integrationsagentur und kümmert sich dort um interkulturelle Alltagsbetreuung. Die andere Hälfte ihres Fulltime-Jobs ist dem Demenz-Servicezentrum vorbehalten.
Ja, diese Frau hat auch einen echten Tick: Sie liebt Stoffe, kauft ständig neuen. „Ich habe inzwischen so viel davon, wie ich im Leben niemals werde nähen können.“ Bedia Torun lacht. Im Keller hat sie ihre Schätze aufbewahrt. Dort lässt sie dann an einem Tisch der Kreativität freien Lauf.
Eine Fachfrau im Internationalen Migrantenzentrum der Awo
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2001 hat Bedia Torun im Internationalen Migrantenzentrum (IMZ) der Awo an der Paulstraße mit türkischsprachiger Sozialberatung angefangen. Älter werden in Deutschland der ersten Generation ehemaliger Gastarbeiter wurde ein Thema. Dann gesellte sich Demenz und Migration dazu. Torun sollte daraus 2004 ein Projekt entwickeln. „Wir haben erkannt, dass das ein wichtiges Thema war.“ Vor allem, weil Betroffene wie Angehörige die Krankheit nicht kannten. Auch in der Türkei, sagt die Pädagogin, hat man spät angefangen, das Thema Demenz aufzugreifen. Allerdings gebe es dafür auch eine Begründung: „Das Lebensdurchschnittsalter in der Türkei war nicht so hoch. Daher kannte man nicht viele Fälle.“ Heute, so die 58-Jährige, habe in Ankara die erste Tagespflege-Einrichtung eröffnet.
Demenz und Migration war als Modellprojekt der Gelsenkirchener Awo auf zunächst zweieinhalb Jahre begrenzt. „Aber wir alle wollten, dass es weiter geht.“ Die Awo bemühte sich mit Erfolg, als Demenz-Servicezentrum ins NRW-Landesprojekt aufgenommen zu werden. Neben Menschen mit türkischen Wurzeln sind russischsprachige Migranten die zweite Gruppe, die an der Paulstraße Hilfe findet