Gelsenkirchen.. Der Skandal rund um die ehemaligen Jugendamtsleiter Alfons Wissmann und Thomas Frings ist das Gesprächsthema in der Stadt. Eine Aufarbeitung.

Es gibt Daten, die verblassen nicht. Ein Beispiel: Viele Menschen wissen heute noch, was sie am 11. September 2001 machten oder wo sie gerade waren, als Terroristen gekaperte Personenflugzeuge in die Türme des New Yorker World Trade Centers und des Pentagon in Arlington (Virgina) lenkten. Nun ist Gelsenkirchen von einer solch gigantischen Tragödie Lichtjahre entfernt, doch der 30. April 2015 wird zweifelsfrei in die Stadtgeschichte eingehen. An diesem rabenschwarzen Donnerstag deckte das WDR-Magazin „Monitor“ mit seinem Bericht „Mit Kindern Kasse machen“ einen Skandal im Bereich der Jugendhilfe auf, der die Gelsenkirchener auf besondere Weise berührt.

Die Beschuldigten

Dass Kinder als Geschäftsmodell missbraucht wurden, um sich privat die Taschen zu füllen, macht mindestens betroffen. Eher schon fassungslos. Dass die Wurzel allen Übels im vielerorts so hochgelobten Gelsenkirchener Jugendamt geerdet ist, ausgerechnet dort, potenziert den Grad der Empörung. Die richtige und erste Reaktion der Stadt war die sofortige Suspendierung der beiden Hauptbeschuldigten, die ihr Heil in einer Nebentätigkeit gesucht hatten. Da wäre Alfons Wissmann (63), Leiter des Jugendamtes und Geschäftsführer von Gekita, dem städtischen Eigenbetrieb für Kindergärten. Und da wäre Thomas Frings (58), sein Stellvertreter im Amt, der seine ehrenamtliche Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) in Gelsenkirchen leidlich nutzte, um das Geschäftsmodell Jugendhilfe zu verschleiern.

Die Vorwürfe

Wissmann und Frings sollen ihre Funktionen ausgenutzt haben, um mit Kindern, die sich in staatlicher Obhut befanden, Geld zu verdienen. Wissmann und Frings sollen gezielt für eine Überbelegung des Gelsenkirchener Heims St. Josef in der Altstadt gesorgt haben. Im Gegenzug dafür wurden Kinder aus Gladbeck und Herne (neun insgesamt) für intensivpädagogische Maßnahmen nach Pecs (Ungarn) geschickt. Träger des Heimes war die Neustart kft, gegründet 2004 von Wissmann und Frings. Es soll eine Abmachung zwischen dem Kinderheim St. Josef, Trägerin ist die St. Augustinus Heime GmbH, und der Jugendamtsleitung gegeben haben.

Die Genehmigung

Bei der Aufklärungsarbeit kristallisierte sich eine zentrale Frage heraus: Wie konnte die Stadt Wissmann eine Nebentätigkeit erlauben, die Dr. Manfred Beck (Grüne) als Dezernent und Vorgesetzter zunächst genehmigte, ehe sie wenige Monate später vom damaligen Personaldezernenten Jochen Hampe (SPD) einkassiert wurde? Im nichtöffentlichen Teil der Hauptausschuss-Sondersitzung vom 4. Mai gab es diese Erklärung:

Das Kinderheim St. Josef vermittelte die Kinder und profitierte von dem Geschäft.
Das Kinderheim St. Josef vermittelte die Kinder und profitierte von dem Geschäft. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Wissmann habe bei der Antragstellung gegenüber Beck nicht alle Karten offen auf den Tisch gelegt. Von der Gründung einer Kapitalgesellschaft, um ein Heim in Pecs zu führen, sei nicht die Rede gewesen. Lediglich davon, in Ungarn intensivpädagogische Maßnahmen für Kinder und Jugendliche organisieren zu wollen. Erst als Frings später seinen Antrag auf Nebentätigkeit ausführlicher formulierte, sei der Interessenkonflikt zu Tage getreten. Das habe in einem ersten Schritt zur Rücknahme der Genehmigung einer Nebentätigkeit für Wissmann und zum Zurückziehen des Antrages von Frings geführt. In einem zweiten Schritt trat Alfons Wissmann seine Gesellschafteranteile an seine Frau ab, Thomas Frings an seinen Bruder.

Die Zahlungen

Die Neustart kft hinderte das nicht daran, die Arbeit aufzunehmen. Aus einer E-Mail von Wissmann an die Neustart-Mitarbeiter ist zu erkennen, dass der frühere Jugendamtsleiter auch nach dem Abtreten seiner Gesellschafteranteile weiter mitmischte. Für die Betreuung der neun Kinder aus Gladbeck soll sich das Honorar im sechsstelligen Euro-Bereich bewegt haben; die Rede ist von rund 350 000 Euro. Wie hoch der Gewinn für die Betreiber-Familien letztlich war, ist bis heute unbekannt. Wissmann erklärte Anfang Mai gegenüber der WAZ in einer ersten Stellungnahme, dass Gewinne gar nicht vorhanden seien, eher mit einem Minus zu rechnen wäre – Wissmann und Frings konnten das Haus in Pecs, in dem die Kinder betreut wurden, bis heute nicht verkaufen.

Das Kinderheim

Mindestens dubios ist die Rolle des Kinderheimes St. Josef in der Gelsenkirchener Altstadt. Gab sich der Träger, die St. Augustinus Heime GmbH, zunächst zugeknöpft, brachte Landesrat Hans Meyer vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) schwaches Licht ins Dunkel. Er berichtete der Politik, dass dem Landesjugendamt für den Zeitraum von 2005 bis 2008 keine Überbelegungen bekannt seien. „Die sind anzeigepflichtig“, sagte er. Allerdings sei im Jahr 2013 durch den Hinweis eines Dritten eine Überbelegung von 13 Kindern aufgedeckt worden, die St. Josef nicht gemeldet hatte.

Wie die WAZ herausfand, war das nur die Spitze des Eisberges.

Die zunächst abgestrittene Zusammenarbeit zwischen St. Josef und der Neustart kft wird durch einen Flyer belegt. Darin wird das Kinderheim als Kooperationspartner von Neustart in Deutschland bezeichnet – mit einer konkreten Ansprechpartnerin. Genannt ist die ehemalige Heimleiterin Anja Gresch, angegeben ist die passende Gelsenkirchener Telefonnummer. St. Augustinus recherchierte neu, ruderte zurück und erklärte: „Die St. Augustinus Heime GmbH musste feststellen, dass es zwischen der Leiterin der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Josef, Anja Gresch, und der Firma Neustart Verbindungen gegeben hat. ... Die Erstellung des Flyers und jegliche Verbindung mit der Neustart kft sind ohne Wissen der Organe der St. Augustinus Heime GmbH erfolgt.“ Gresch wird zunächst freigestellt.

Die Überbelegung

Öffentlich wird durch eine WAZ-Recherche auch, dass St. Augustinus-Geschäftsführer Peter Weingarten seiner zwischenzeitlich suspendierten Heimleitung schon früh eine Kooperation mit der Neustart kft untersagte. Das räumte der Geschäftsführer im Rat der Stadt ein. Doch es kommt noch dicker: Berichtete „Monitor“ von Überbelegungen des Heimes an der Husemannstraße in den Jahren 2007 und 2008, liegen der WAZ-Redaktion ähnliche Zahlen für 2011 und 2012 vor.

In einer Sondersitzung tagte der Hauptausschuss des Rates der Stadt Gelsenkirchen am Montag, 4. Mai, zu den Vorwürfen der Vorteilsnahme im Amt.
In einer Sondersitzung tagte der Hauptausschuss des Rates der Stadt Gelsenkirchen am Montag, 4. Mai, zu den Vorwürfen der Vorteilsnahme im Amt. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Im Jahr 2011 gab es demnach eine Überbelegung der Gruppe an der Bromberger Straße in Rott-hausen von 145,64 Prozent. Bei einer Belegung von sieben Plätzen hätte die Soll-Zahl der Gruppe in der Abrechnung bei 2555 Tagen gelegen, erreichte im Ist-Stand jedoch 3721 Tage. Ein Platz mit intensivpädagogischer Betreuung kostet mindestens 155 Euro; es müsste in den Büchern der St. Augustinus Heime GmbH ein Mehrbetrag von mehr als 180 000 Euro allein für diese Gruppe auftauchen. Für das Jahr 2012 und einer Soll-Zahl von 2562 Tagen (die Differenz zu 2011 ergibt sich durch das Schaltjahr) wurden 3267 Tage in der Ist-Belegung aufgerechnet. Die rechnerische Überbelegung beträgt 127,52 Prozent, die Mehreinnahmen rund 109 000 Euro.

Anja Gresch aber handelte nicht nur an dieser Stelle falsch. Sie besorgte ihrem Sohn in St. Josef einen Arbeitsplatz mithilfe eines nicht korrekt ausgefüllten Führungszeugnisses. Die Konsequenz folgte: St. Augustinus kündigte ihr fristlos; der Gütetermin vor dem Arbeitsgericht findet am 17. Juli statt.

Um die Situation im eigenen Haus aufzuklären, verpflichtete St. Augustinus das Wirtschaftsprüfungsunternehmen BDO aus Hamburg. Außerdem prüft das Landesjugendamt die Bücher.

Der Kinderschutzbund

Die Rechnungen für die Neustart kft schrieb – man glaubt es kaum – der DKSB und kassierte als Vergütung 5 Euro pro Tag und pro betreutem Jugendlichen. Zu den Leistungen gehörte auch, dass der Kinderschutzbund für alle betreuten jungen Menschen im Ausland eine Haftpflichtversicherung abschloss.

Die Politik

Derweil begibt sich die Politik auf die Suche nach Sündenböcken. Die SPD stellt sich vor den Verwaltungsvorstand und speziell vor den Oberbürgermeister, der zwar nicht offen, aber in Anspielungen zum Ziel wird. Die Genossen wiederum nehmen die St. Augustinus GmbH aufs Korn, die von der CDU auffällig geschont wird. Allein die sogenannten „Kleinen“ im Rat scheinen frei von Bindungen, wenn es um das geht, was alle fordern: die rückhaltlose Aufklärung. Ein Untersuchungsausschuss wird eingerichtet, der kurz vor den Sommerferien erstmals tagte und die mit ihm verbundene Hoffnung nach sachlicher Arbeit nach allen Regeln der Kunst torpedierte.

Die Auflösung

Mit Alfons Wissmann wurde am 12. Mai ein Aufhebungsvertrag mit den Stimmen der SPD geschlossen. Für die Stadtverwaltung gilt das als ideale Lösung, an den ehemaligen Amtsleiter kein Geld zahlen zu müssen. Er scheidet zum 31. Juli aus. Mit Thomas Frings liegt die Stadt im Streit. Der fristlosen Kündigung folgte die Kündigungsschutzklage. Der Gütetermin vor dem Arbeitsgericht am 2. Juli blieb ohne Einigung. Der Kammertermin soll im Oktober folgen.

Auch in Orfü wurde mitverdient

Das Medieninteresse an dem Skandal ist groß. Bundesweit wurde darüber berichtet.
Das Medieninteresse an dem Skandal ist groß. Bundesweit wurde darüber berichtet. © Funke Foto Services | Funke Foto Services

Alle dachten über fast zwei Jahrzehnte: Das ist eine großartige Sache. Kinderferienfreizeiten im ungarischen Orfü – daran kann nichts falsch sein. Zumal ja auch sozial schwächere Familien von besonderen Konditionen profitierten. Weit gefehlt! Es war Werktag Nummer 3 nach der Ausstrahlung der ARD-Sendung Monitor, als der Verdacht aufkam, dass auch auf dem Reiterhof in der Nähe von Pecs nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Im nichtöffentlichen Teil der Sondersitzung des Hauptausschusses am 12. Mai wurden die Stadtverordneten darüber informiert, dass Alfons Wissmann Mitbegründer der Firma Gonda Reiterhof und bis 2004 an diesem Unternehmen beteiligt war. Bis zu dem Jahr also, in dem der Jugendamtsleiter und sein Vize Thomas Frings die Neustart kft in Pecs gegründet haben. Neben Tibor Gonda und Wissmann saß ein dritter Firmengründer im Boot: Hans-Jürgen Meißner, ehemaliger stellvertretender Jugendamtsleiter und Vorgänger von Thomas Frings.

Deloitte recherchierte für die Stadt

In Ungarn recherchierte schließlich im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen das Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte und kam zu diesen konkreten Erkenntnissen:

Seit Sommer 1997 führt die Stadt Ferienfreizeiten auf dem Reiterhof Tekeres in Örfü bei Pecs durch. Der frühere stellvertretende Jugendamtsleiter Hans-Jürgen Meißner war seit dem 29. Juli 1996 Mitbetreiber des Hofes und ist es auch heute noch; seit dem 23. Dezember 1997 hält Meißner zudem Immobilienanteile in Höhe von elf Prozent. Alfons Wissmann gab seine Beteiligung an der Betreibergesellschaft, die er ebenfalls seit 1996 hielt, am 2. April 2005 ab; die an den Immobilien (elf Prozent) reichte er im November 2004 an einen Sohn weiter.

Oberbürgermeister Frank Baranowski hatte da bereits reagiert. Er stornierte das Sommerferien-Angebot in Ungarn am 6. Mai und versprach, eine Alternativlösung anzubieten, die schnell gefunden wurde. In diesem Sommer geht die Reise bekanntlich nach Frankreich.