Gelsenkirchen. . Könnten diese Häuser reden, könnten manche auch von den schändlichsten Kapiteln der Gelsenkirchener Stadtgeschichte berichten: die Judenhäuser

Könnten diese Häuser reden, könnten manche auch von den schändlichsten Kapiteln der Gelsenkirchener Stadtgeschichte berichten.

Das Haus Arminstraße 15, eins der schönsten Häuser in der Fußgängerzone der Altstadt, die staatlichen Bauten an der Von-der-Recke-Straße 4 und 9, waren sogenannte Judenhäuser. Oder das Haus Klosterstraße 21, das einer Neubebauung weichen musste. In ihm waren zeitweise 34 jüdische Bürgerinnen und Bürger untergebracht, zusammengepfercht. Die Gestapo konnte ihrer so schneller habhaft werden..

Judenhäuser, das waren kleine Ghettos in Städten, Zwischenstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Sie gehörten ursprünglich jüdischen Familien und wurden nach der Pogromnacht 1938 genutzt, um dort andere jüdische Bürger zwangsweise einzuquartieren. Trennung von Juden und „Ariern“ lautete das Ziel der NS-Führung.

Die staatlichen Behörden spielten mit

Das am 30. April 1939 erlassene „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ zwang Juden, „arische Wohnhäuser“ zu räumen und in „Judenhäuser“ zu ziehen. Eigentümer konnten nun ohne Begründung jüdischen Mietern kündigen. Der Ausweg bestand für viele Juden darin, in ein Haus zu ziehen, das einem Juden gehörte. Gleichzeitig wiesen die Wohnungsbehörden aus ihren Wohnungen vertriebene Juden zwangsweise in derartige Judenhäuser ein. „Ganz normale Verwaltungsämter in Gelsenkirchen arbeiteten eng mit der Gestapo zusammen; das galt für das Wohnungs-, aber auch für das Finanzamt“, sagt Historiker Dr. Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte (ISG).

Der „radikale Ausgrenzungsprozess“ (Schmidt) begann aber schon viel früher. Ab 1933 verloren Juden ihre Arbeit in Verwaltungen, jüdischen Ärzten wurde die Approbation entzogen, jüdischen Anwälte ihre Zulassung aberkannt, jüdische Schüler mussten die staatlichen Schule verlassen.

Judenhäuser in Gelsenkirchen-Mitte

Die Wohnsituation in den Häusern war menschenunwürdig. Jeder Familie stand nur ein Raum zu, die Sanitäranlagen mussten mit vielen geteilt werden. „Wurde ein Zimmer leer, weil der oder die Bewohner bei einer der vielen Deportationen abtransportiert worden waren, rückte sofort jemand nach“, so Schmidt.

Vor allem in Gelsenkirchen-Mitte konzentrierten sich die Judenhäuser: 36 gab es in der Altstadt, vier in Buer und zwei in Horst. Für viele Menschen waren sie die letzte Station, ein Zwischenstopp, vor der Reise in den Tod.

Die Juden lebten Tür an Tür mit der sogenannten „arischen“ Bevölkerung, sie waren ein sichtbarer Bestandteil der Nachbarschaft. „Ich gehe davon aus, dass die Bevölkerung von den Judenhäusern wusste“, sagt Daniel Schmidt. Was auch den nach Kriegsende häufig geäußerten Satz „Man habe davon nichts gewusst“ in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Unverständliche Dankbarkeit

Es tauchen Erinnerungen in dem Gespräch mit Judith Neuwald-Tasbach auf, da sagt die Vorsteherin der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, dass sich ihr bei diesem Gedanken „der Magen umdreht“. Eine Geschichte hat sie ihre Kindheit durch begleitet. Ihr Vater Kurt Neuwald habe sehr an einer Enzyklopädie gehangen. „Die musste er zu einem Spottpreis weggeben.“ Ebenso sein Fahrrad. „Meinem Vater wurde seine Mobilität, sein Ohr in die Welt und seine Kontinuität genommen“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Die Familie musste sich 1941 von Porzellan, Möbeln, Radio trennen, in einem Zimmer zusammenrücken, sich Küche und Sanitäranlagen mit anderen Bewohnern teilen.

Neuwalds hatten ein Bettengeschäft. Die Wohnung lag über dem Laden. In der Pogromnacht wurde das Ladenlokal kurz und klein geschlagen. Die Wohnung blieb nur verschont, weil der SS-Mann Großmutter Neuwald kannte und Geld einsteckte. „Für diese Rücksicht war die Großmutter ihm unendlich dankbar“, erzählt die Enkelin.

Für Menschlichkeit dankbar

Eine nicht nachvollziehbare Dankbarkeit, die Neuwald-Tasbach so begründet: „Wenn man unter Wölfen lebt, ist man für jedes bisschen Menschlichkeit dankbar.“ Das galt auch für eine Begegnung, die der Vater als Häftling im KZ Riga 1942 mit einem Gelsenkirchener hatte. „Sie auch hier?“, habe der Mann gerufen und ihm einen Eimer Kartoffelschalen geschenkt „und nicht, wie später geschrieben einen Sack Kartoffeln.“ Der Vater habe immer wieder voller Dankbarkeit davon erzählt, „als ob er eine Dose Kaviar bekommen hätte“.

Jahre später rief eine Frau aus Gelsenkirchen in der Synagoge an und teilte mit, dass ihr Bruder in Hamburg verstorben sei. Es war der Mann mit den Kartoffelschalen.