Gelsenkirchen. . Als Yilmaz Özdemir 1978 ins Ruhrgebiet kam, war er das einzige „Ausländerkind“ in der Klasse. Heute setzt sich der Soziologe für mehr Miteinander ein.

Yilmaz Özdemir spricht akzentfrei deutsch, hat eine sanfte Stimme, ist unverkennbar exzellent gebildet. Der laut Personalausweis 43-Jährige kam 1978 erstmals aus seinem 100-Seelen-Dorf Bahadir in der Türkei nach Deutschland. Der Papa er arbeitete damals bereits seit einem Jahr auf Prosper als Bergmann. Daheim war Yilmaz in die Dorfschule gegangen, wo die Klassen eins bis sechs gemeinsam lernten und der strenge Lehrer morgens prüfte, ob die Hände sauber waren. Weil die Kinder auf dem Feld helfen mussten, war es sehr schwer, saubere Hände zu haben.

In der Grundschule in Deutschland ging es weniger streng zu. Leichter fiel es Yilmaz deshalb jedoch nicht. Er war das einzige Kind mit Migrationshintergrund und sprach kein Wort deutsch. Am ersten Schultag, als alle anderen ihre Leckereien aus ihrer schmucken Schultüte packten, stand er mit leeren Händen da. Schokolade kannte er sowieso gar nicht.

Nach dem ersten Urlaub in der Türkei versteckt

Auch für die Eltern war es schwer: Selbst Banales wie Milch einzukaufen. „Auf türkisch macht die Kuh ‘möh’, auf deutsch ‘muh’. Wenn mein Vater im Laden ‘möh’ machte, wusste keiner, was er wollte,“ erinnert er sich.

Yilmaz Özdemir ist für das Management zuständig, seine Frau Nanni für die Physiotherapie. Die beiden sind schon seit über 20 Jahren ein Paar, arbeiten aber erst seit zwei Jahren zusammen.
Yilmaz Özdemir ist für das Management zuständig, seine Frau Nanni für die Physiotherapie. Die beiden sind schon seit über 20 Jahren ein Paar, arbeiten aber erst seit zwei Jahren zusammen. © FUNKE Foto Services

Yilmaz erstes Schuljahr hier war so traurig und schwer, der Lehrer und die Mitschüler so ablehnend, dass er sich am Ende des ersten Sommerurlaubs in der Türkei versteckte, um nicht zurück nach Deutschland zu müssen. Zuhause hatte er viele Freunde, mit denen er abends, nach der Feldarbeit, bis in die Nacht spielen konnte.

Ein Jahr später allerdings drängten die Eltern auf seine Rückkehr nach Bottrop. Apropos Eltern. Dass er eigentlich schon 46 Jahre alt ist, hat die Mutter ihm erst vor kurzem „nebenbei“ erzählt. Die Stadt, in der Neugeborene registriert wurden, war weit entfernt. Da fuhr man nicht hin, nur weil ein Kind kam. Der Vater hatte bei einem (viel späteren) Besuch beim Amt angegeben, der Junge sei in der Erntezeit geboren. Das Jahr nannte er nicht, der Beamte legte den 10. September 1972 fest. Den feiert Yilmaz auch heute noch.

Als einziges Arbeiterkind misstrauisch beäugt

Sein erster Eindruck, als er nach Deutschland kam, war: Alles ist grau, in der Türkei war alles grün. Immerhin waren bei der Rückkehr zwei weitere „Ausländerkinder“ an der Schule. Das machte es leichter. Auch die neue Lehrerin brachte viel mehr Verständnis auf, bat einen deutschen Mitschüler, Yilmaz seine Sprache beizubringen. Am Ende der Grundschulzeit empfahl man ihm die Hauptschule. Nach dem Abschluss aber machte Yilmaz Özdemir sein Abitur – an der Metallberufsschule Gelsenkirchen. Dass er das einzige Arbeiterkind war, ließ man ihn dort spüren.

Nach dem Abitur studierte er in Münster: Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Soziologie. Es interessierte ihn, was schief gelaufen war bei der Integration, beim Miteinander der Kulturen. Das interessiert ihn bis heute. Er möchte helfen, dass mehr miteinander geredet wird, dass der Austausch zwischen muslimischen, christlichen und staatlichen Verbänden besser funktioniert. Für alle Flüchtlinge.

Ablehnung wegen des türkischen Namens

Der Magisterabschluss an einer deutschen Uni hat Yilmaz Özdemir bei der Jobsuche wenig geholfen. Sobald er seinen türkischen Namen nannte, wollten Arbeitgeber ihn nicht. Er machte sich selbstständig als Unternehmensberater, arbeitete erfolgreich, machte sozioökonomische Marktanalysen für Firmen. Plötzlich umwarben ihn jene, die ihn abgelehnt hatten.

Als seine Frau, Nanni Kraft-Özdemir, ihn bat, das Management ihrer Physiotherapiepraxis zu übernehmen, weil ihre Firma nach dem Ausstieg einer Partnerin gefährdet war, zögerte er nicht. Er stieg aus seiner Firma aus.

Spende soll Flüchtlingskindern das Lernen erleichtern

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Apropos Nanni: Seine Frau lernte er als Physiotherapeutin kennen. In den Ev. Kliniken, 1993. Es war Liebe auf den ersten Blick, sagen beide. Sie sind standesamtlich verheiratet. Anders ging es nicht, da beide nicht konvertieren wollten. Und beide sich eher als „freiberufliche“ Gläubige sehen.

Heimat ist für ihn nicht ortsgebunden. „Drei Orte sind meine Heimat: Gelsenkirchen, wo ich arbeite. Bochum, wo ich lebe und ausruhe. Die Ostsee, wo wir dreimal im Jahr Urlaub machen. Zu meinem Dorf in der Türkei habe ich eine eher romantische Beziehung. Dahin zurückzukehren, kann ich mir nicht vorstellen.“ Seine Gedichte dazu finden Sie unter http://www.e-stories.de/view-autoren.phtml?yoezd

Nannin Kraft-Özdemir bei der Übergabe der Lernmaterialien, hier mit Francesca (6).
Nannin Kraft-Özdemir bei der Übergabe der Lernmaterialien, hier mit Francesca (6). © Hildegard Lucas

Yilmaz Özdemir hat seinen schweren Start hier nicht vergessen. „Über die Buchhandlung Junius haben wir erfahren, dass eine IFÖ-Klasse an der Grundschule Georgstraße eingerichtet wurde. Spontan haben wir uns entschlossen, diese Kinder zu unterstützen. Gerade Kinder aus Krisengebieten sind die am stärksten Leidenden. Mit unserer Spende möchten wir einen Beitrag dazu leisten, zumindest das schulische Leben der Betroffenen ein wenig zu erleichtern,“ erklärt das Ehepaar Kraft-Özdemir. Die Grundschule hatte kurzfristig eine Internationale Förderklasse mit 19 Kindern aus verschiedensten Ländern bekommen. Die meisten Kinder können sich Materialien wie Stifte und Hefte nicht leisten; Schulleiterin Hildegard Lucas nutzt die Spende dafür.