Gelsenkirchen. Für die seit Jahren hier lebenden Familien Hamishli-Eyup und Abdallah-Ibrahim ist die zermürbende Zeit vorbei: Tochter, Enkel und Nichten sind angekommen.
Im August 2014 kam die erlösende Nachricht. Endlich. Endlich grünes Licht für die Ausreise von Khalat Eyup (22) und ihren kleinen Sohn Can. Monatelang hatte die junge Witwe, deren Mann in Syrien erschossen worden war, mittellos als Flüchtling irgendwo im Grenzbereich zwischen der Türkei und Syrien gelebt, wurde mal von dieser, mal von jener Familie aufgenommen. Und hier, in Gelsenkirchen, sorgte sich Familie Hamishli-Eyup entsetzlich um Khalat.
Die WAZ berichtete 2014 über das Schicksal der Hamishli-Eyups und der Familie Abdallah-Ibrahim. Die hier seit Jahren in Sicherheit leben – und hilflos die Nachrichten aus ihrer alten Heimat verfolgten. Mit Berichten über Gewalt, hemmungslosem Morden, Massenflucht, Flüchtlingselend. Assad-Regime und Islamischer Staat wurden zum Albtraum des Kopfkinos.
Die Nerven liegen blank
Mohamed Ibrahim fürchtete um seine beiden Nichten Ala und Nur und Schwiegertochter Mana mit ihren drei Kindern. Eine alleinstehende Frau, selbst mit Kind gelte dort nicht viel, sagte er einmal. Auch, wenn der Mann gewaltsam ums Leben gekommen sei.
Und jetzt endlich – seit Februar – sind sie also da: Khalat und ihr inzwischen knapp zweijähriger Can, Archäologie-Studentin Nur (25), die 19-jährige Bankkauffrau Ala und Mana (24), Mutter von drei kleinen Jungen. Wie Khalat und ihr Söhnchen waren die drei Frauen lange auf der Flucht, haben sich irgendwie über Wasser gehalten, sind jetzt in Sicherheit. Mitten in Gelsenkirchen, mitten in einer fremden Stadt, mitten in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen. In das sie wohl niemals gekommen wären, hätten sie nicht Todesangst gehabt.
Wie blank die Nerven bei den vier Syrerinnen noch liegen, dafür spricht Alas plötzliche Tränenausbruch. Sie lächelt höflich-tapfer darüber hinweg. Natürlich sind die Frauen froh, in Sicherheit zu sein, erzählen sie. Samira Abdallah übersetzt, was die beiden Nichten ihres Mannes und deren Schwägerin berichten. Sie haben nicht nur die Gefahr, sie haben auch ihr gesamtes soziales Umfeld zurück gelassen. Freunde, Kollegen, Angehörige ... So wie Khalat, die bei der Großmutter blieb, als Eltern und Geschwister vor 15 Jahren aus Syrien flüchteten. Weil sie Kurden sind. Die Oma wurde zum Mutterersatz. 2011 hatten Sihan Hamishli und Ehemann Mohammed Eyup ihre Tochter zum letzten Mal besucht. Da wurde Hochzeit gefeiert.
Kalat vermisst ihre Oma
Khalat, die wie die anderen Frauen eine zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung als Kriegsflüchtling hat, kündigt schon heute an, sie werde wieder in ihre Heimat zurück kehren. Sie vermisst ihre Oma. Warum die Eltern damals ihre kleine Tochter zurück gelassen hatten, erklärte Mutter Hamishli im vergangenen Jahr so: Ihre Schwiegermutter habe sich gewünscht, etwas von ihrem Sohn bei sich haben zu dürfen. Dass Tochter und Enkelkind überhaupt hier sind, grenzt für die Familie schon fast an ein Wunder. Sie haben fast nicht mehr daran geglaubt, nachdem ihre Bemühungen, Khalat raus zu holen, lange Zeit ins Leere liefen: „Wir waren beim Roten Kreuz, bei der Diakonie und bei der Caritas und haben um Hilfe gebeten. Man hat uns an die Ausländerbehörde verwiesen, die zuständig sei. Dann haben wir von der Hotline in Düsseldorf erfahren, über die man beantragen konnte, Angehörige, die aus Syrien geflüchtet sind, hierher zu holen.“
In der ganzen Zeit des Hoffens und Bangens standen Wilma Mittelbach (AUF) und Courage-Frauen den Familien zur Seite. „Wenn Menschen über das Bundesprogramm nach Deutschland kommen, erhalten sie hier eine Wohnung und Unterstützung“, sagt sie. Aber: Das könne sechs Wochen dauern. Samira Abdallah nickt. „Unsere Angehörigen haben Glück, weil wir uns kümmern.“ Wie es syrischen Flüchtlingen ergehen mag, die ganz allein in Deutschland seien? Sie gibt die Antwort selbst: „Die Menschen brauchen Hilfe.“
Zwischen der Zusage und der Landung in Düsseldorf verging ein halbes Jahr
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte mit seinen Länderkollegen im Juni 2014 entschieden, das bisherige Aufnahmekontingent für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auf 20.000 Menschen zu erweitern. Vorwiegend sollten, auch darauf verständigte man sich, Menschen aufgenommen werden, die bereits in Deutschland lebende Verwandte haben. Entsprechende Vorschläge sollten über die Bundesländer kommen. Bis zu diesem Beschluss hatte die Bundesrepublik ein Aufnahmekontingent von 10.000 Personen – bekanntlich zu wenig. Auch die Anträge der beiden Gelsenkirchener Familien waren da noch unbearbeitet.
Dass zwischen dem positiven Aufnahmebescheid und der Ankunft von Khalat Eyup und ihrem Sohn dann weitere sechs Monate vergingen, ist nicht zuletzt der Bürokratie in der Türkei geschuldet. Nachdem die Familie Hamishli-Eyup erfahren hatte, dass die Tochter kommen darf – und sie als Eltern nicht bürgen mussten – flog Mohammed Eyup in die Türkei. Als Ort zur Erledigung der notwendigen Formalitäten war Istanbul gewählt worden. Dorthin reiste auch seine Tochter – und wieder zurück. Erst ein paar Wochen später dann der nächste Termin ... Die Eltern kamen für die Reisekosten auf. Selbstverständlich auch für das Flugticket Istanbul-Düsseldorf. Als der Flieger in Düsseldorf gelandet war, wollte Khalats Bruder Ahmed seine Schwester bei der Begrüßung gar nicht mehr loslassen ...
Apropos Begrüßung: Die jungen Syrerinnen und ihre Kinder wurden auch bei einer der folgenden Montagsdemos auf dem Preuteplatz willkommen geheißen.