Gelsenkirchen-Horst. Der Gelsenkirchener Kolpingverein wollte 1869 heimatlosen Gesellen helfen, Fuß zu fassen. Der Wertekanon ist für Mitglieder nach wie vor aktuell.
Wenn Hubert Sändker (86) heute über die Vereinsstraße spaziert, dann weiß er noch genau, wie er 1953 anreiste: ein 20-jähriger Schuhmacher aus dem Emsland in Umzugslaune. „Ich kannte niemanden in Horst, wusste aber aus den Kolpingblättern, dass es ein Kolpinghaus gab, in dem Gesellen übernachten konnten.“ Das Gebäude steht längst nicht mehr, das ihm drei Jahre zur Heimat wurde – aber der Gemeinschaftsgeist unter Kolpingbrüdern (und heute auch -schwestern), er ist geblieben. Und wird in diesen Tagen besonders beschworen zum 150. Geburtstag der Kolpingsfamilie Horst-Emscher.
„Miteinander leben, glauben, feiern“: Unter diesem Motto hat der Festausschuss für die rund 170 Mitglieder und weiteren Interessierten ein prall gefülltes Jubiläums-Programm zusammengestellt. Es eignet sich auch hervorragend, um die Entwicklung des katholischen Verbandes seit seiner Gründung am 2. Februar 1869 zusammenzufassen. Obwohl sich die Gesellschaft seit damals grundlegend geändert hat.
Verein wollte jungen Gesellen helfen, wieder Fuß zu fassen
Denn als Pastor Ferdinand Lenfert an jenem Wintertag sämtliche Meister und Gesellen vor Ort zu einer Versammlung in der Knabenschule zusammentrommelte, um einen Katholischen Gesellenverein im Geiste des Priesters Adolph Kolping (1813-1865) ins Leben zu rufen, war Horst eine kleine Gemeinde mit einer aufstrebenden Zeche Nordstern. Die Arbeitsbedingungen für Handwerksgesellen waren nach dem Wegfall der Zünfte schlecht, und die jungen Gesellen, die auf der Suche nach Arbeit und Fortbildung von Ort zu Ort zogen, litten in der Fremde unter dem Gefühl von Heimatlosigkeit und fehlender sozialer Absicherung. „Die Folgen waren häufig Kriminalität und Alkoholismus“, weiß Kerstin Kubek, heute Vorsitzende der Kolpingsfamilie Horst-Emscher.
Nach dem Vorbild von Kolpings Gesellenvereinen sollte auch der Ableger im Schatten von Nordstern jungen Handwerkern helfen, wieder Fuß zu fassen. Am Ende bestimmte er jedoch auch das gesamte kirchliche, soziale und gesellschaftliche Leben in Horst mit. In wöchentlichen Versammlungen hörten die Mitglieder Vorträge, und als Ende des 19. Jahrhunderts unter der Regie von Präses Kaplan Weining ein Kolpinghaus an der Vereinsstraße errichtet wurde, hatten nicht nur die Mitglieder eine dauerhafte Bleibe gefunden, die wandernden Gesellen als Anlaufpunkt diente, sondern auch die Horster Pfarrgemeinde einen Ort für soziale und kulturelle Veranstaltungen.
Luftangriff zerstörte 1944 großen Saal des Kolpinghauses
Das Vereinsleben nahm einen gewaltigen Aufschwung: Ausflüge, Weiterbildung, Gottesdienste standen auf dem Programm, sogar eine Theaterabteilung entstand. Ab 1913/14 konnten wandernde Gesellen dann in der zweiten Etage übernachten. Im Ersten Weltkrieg, in dem 19 Mitglieder an der Front fielen, diente der kleinere Saal als Reservelazarett. Zur Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmte die SA einige Räume und richtete dort eine Dienststelle ein. Die beliebten Zunftabende und die Veranstaltungen der 1926 gegründeten Schützengilde verschwanden. Der Gesellenverein musste sich umbenennen in „Deutsche Kolpingsfamilie“.
Als 1940 im Gesellenhaus eine neu Großküche gegründet wurde, entwickelte sich das Gebäude zu einem Treffpunkt vieler Flüchtlinge, die in Horst eine neue Heimat suchten. Aber nicht von langer Dauer: Am 23. November 1944 zerstörte ein Luftangriff weite Teile von Horst, wobei auch der große Saal mit sämtlichem Inventar und historischen Unterlagen zertrümmert wurde. Nur privat eingelagerte Gegenstände – darunter die Gründungsfahne und einige Dokumente – konnten gerettet werden. Zu verkraften hatte der Verein auch den Tod von 35 Kolpingbrüdern im Zweiten Weltkrieg; 14 Mitglieder gelten als vermisst.
1974: Kritik an der Öffnung des Vereins für Frauen
Nach 1945 machte sich die Kolpingsfamilie an den Wiederaufbau des Gesellenhauses, das nach dem Wiederaufbau bis 1948 zum Mittelpunkt des kirchlichen Lebens – etwa für Gottesdienste – wurde. Gesangs- und Theaterabteilung nahmen wieder ihre Arbeit auf, es entstanden 1949 der Spielmannszug der Kolpingsfamilie und ein Kegelklub. 1953/54 wurden in den Sälen Flüchtlinge aus der Ostzone einquartiert, 1957 schließlich Jungbergleute der Zeche Nordstern.
Mit der Öffnung des Vereins für Frauen 1974 kam freilich nicht jeder im Verein zurecht: „Es gab Männer, die offen erklärten: Wenn Frauen aufgenommen werden, komme ich nicht mehr wieder. Aber das hat sich zum Glück gegeben“, berichtet Sändker, damals Vorsitzender. Heute sind Kolpingschwestern nicht mehr wegzudenken. „Wir haben mehr weibliche als männliche Mitglieder“, so Kerstin Kubek.
Vorsitzende Kubek: „Christliche Werte sind Konstanten, die damals wie heute gelten“
Sie ist überzeugt: Auch wenn die Höchstwerte von mehr als 300 Vereinsangehörigen in den 1970er-Jahren nicht mehr erreicht werden können, so hat die Kolpingsfamilie Horst-Emscher eine Zukunft. „Christliche Werte, ein selbstverantwortliches Leben und solidarisches Handeln sind Konstanten, die damals wie heute gelten.“
Zwar hätten einige noch immer nicht verdaut, dass das marode Kolpinghaus 1994 aus finanziellen Gründen verkauft werden und nach dem Abriss einer Wohnbebauung weichen musste. Aber im Pfarrzentrum St. Hippolytus als neuer Heimat fühlten sich die Mitglieder sehr wohl und fühlten sich für die Zukunft gut aufgestellt. „Wir haben eine sehr rege Jugendabteilung, für die das jährliche Zeltlager ein echter Höhepunkt ist. Dazu die ,Kolping-Kicker’, den Kegelverein ,Voll daneben’ und den Spielmannszug.“ Kurz: Den Stadtteil hält die Kolpingsfamilie auch im 150. Jahr noch auf Trab.