Essen-Südostviertel. Klassentreffen zu viert: Vor 60 Jahren machten sie an der Viktoriaschule Essen Abi. Nun erinnern sie sich an Latein-, Griechisch- und Tanzstunde.
Altschülertreffen haben oft ihre ganz eigene Dynamik: Plötzlich scheint die Zeit zurückgedreht und die Vergangenheit wird mit jeder Minute präsenter. So zumindest ergeht es den vier ehemaligen Schülerinnen der Viktoriaschule, die vor 60 Jahren dort ihr Abitur bestanden haben.
Die Aula des altehrwürdigen Gymnasiums in der Nähe des Steeler Wasserturms platzt an diesem Samstagnachmittag aus allen Nähten: Schulleiter Klaus Wilting hat ein letztes Mal in dieser Funktion die Ehemaligen der 1912 gegründeten Schule zum traditionellen Altschülertreffen eingeladen. Denn die Viktoriaschule läuft zum Bedauern aller Anwesenden Ende diesen Schuljahres aus und wird dann zur Dependance des Burggymnasiums.
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Unter den vielen Gästen sind auch Gerlinde Hövel, Sigrun Muthmann-Hellwig, Angela Hansel und Renate Castelluci. Die vier Damen, allesamt 79 Jahre alt, haben vor genau 69 Jahren zum ersten Mal die imposante hölzerne Eingangstür durchschritten; wohlwissend, dass es in dieser Zeit für Mädchen etwas Besonderes war, ein Gymnasium zu besuchen. Erst 1974 wurde die städtische Viktoriaschule für Jungen geöffnet.
Neun Jahre Latein, sechs Jahre Griechisch, fünf Jahre Englisch und drei Jahre Französisch
„Wir waren die erste Klasse nach dem Krieg, die alte Sprachen lernen durfte“, sagt Gerlinde Hövel und zählt auf: neun Jahre Latein, sechs Jahre Griechisch, fünf Jahre Englisch und drei Jahre Wahlfach Französisch. „Bei diesem Pensum würden wohl die heutigen Schüler streiken“, sagt sie und lacht. Geholfen hat ihr diese Ausbildung für den späteren Beruf: Apothekerin und Lebensmittelchemikerin war sie bis zur Pensionierung. Neben dem altsprachlichen Zweig gab es auch noch einen neusprachlichen und einen naturwissenschaftlichen. „Wir haben auf jeden Fall sehr viel pauken müssen“, erinnert sich Renate Castelluci.
Die Erwartungen an sie waren hoch, denn aus den gut gebildeten Mädchen sollten später möglichst Lehrerinnen oder Ärztinnen werden. So zumindest wurde es gegenüber den Eltern propagiert. Sigrun Muthmann-Hellwig hat das verinnerlicht: Die energische Dame ist Orthopädin geworden.
Abithema 1959: „Was halten Sie von der Gleichberechtigung?“
Ihre drei Mitschülerinnen verblüfft sie mit einem unglaublichen Gedächtnis: Nicht nur die Namen nahezu aller Lehrer sind ihr präsent, auch viele Anekdoten fallen ihr ein. Selbst die Themen der Abiturarbeiten hat sie parat: „Was halten sie von der Gleichberechtigung?“, lautete eines. „Das war doch schon ziemlich fortschrittlich für das Jahr 1959“, sagt Sigrun Muthmann-Hellwig, verrät aber nicht, wie frei sie sich zu diesem Thema äußern durfte.
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„Wie waren ja noch zwei Generationen vor den 1968ern“, gibt Angela Hansel, die übrigens später wie erwünscht Lehrerin geworden ist, zu Bedenken. Disziplin wurde groß geschrieben: „Beim Pausenschluss stellen die Klassen sich, wie es geübt worden ist, auf. Auch nach Betreten des Gebäudes gehen die Schülerinnen geordnet in die Klassen. In der Regenpause gehen alle Schülerinnen zu zweit (rechte Schulter, rechte Wand) auf ihrem Flur auf und ab“, lautet ein Auszug aus der Schulordnung, die die damalige Schulleiterin Dr. Maria Braeker aufgestellt hatte.
Wir trugen kurze Turnhosen, die anderen Mädchen mussten Pluderhosen tragen
Trotzdem sind sich alle einig, dass die Viktoriaschule für die damaligen Verhältnisse zwar anspruchsvoll aber auch progressiv war. „Wir turnten in richtigen kurzen Sporthosen, während die Mädchen des Maria-Wächtler-Gymnasiums noch Pluderhosen tragen mussten“, sagt Renate Castelluci, die auch später aktiv Sport getrieben hat. Klassenfahrten führten nach Rom und Dänemark. Im Unterricht durfte schon mal diskutiert werden. Strafen in Form von körperlicher Züchtigung gab es nicht (im Gegensatz zu Jungenschulen, an denen bis Ende der 1960er Jahre noch Schüler geschlagen wurden). Und es kamen langsam jüngere Lehrerinnen an die Schule, die mit ihrem neuartigen Unterricht den Horizont der wohlbehüteten Mädchen sprengten.
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Und wo lernten die jungen Damen Vertreter des anderen Geschlechtes kennen? „Gar nicht“, antwortet Sigrun Muthmann-Hellwig wie aus der Pistole geschossen. „Stimmt nicht“, fallen ihr die drei Mitschülerinnen ins Wort und berichten lebhaft von Partys mit Feuerzangenbowle, von der ersten Tanzstunde, den gut aussehenden Freunden der älteren Brüder und „Liebesbriefchen“, die man mit den Burgschülern ausgetauscht habe. Und da sind sie plötzlich wieder ganz jung...
Die ersten Schülerinnen kamen aus dem ganzen Ruhrgebiet
Die Viktoriaschule wurde vor 107 Jahren als Abzweig der damaligen Luisenschule (Bismarckplatz) gegründet. Dort war seinerzeit nach der zehnten Klasse Schluss; wer damals als Mädchen das Abi machen wollte, was überhaupt erst seit 1908 ging, musste nach Bredeney zur Goetheschule. Nachmittags, wenn die Jungen aus dem Gebäude verschwunden waren.
So wurde am Kurfürstenplatz im Südostviertel ein repräsentativer Bau errichtet, in dem 1914 die ersten Abiturientinnen verabschiedet wurden – sie kamen aus dem Ruhrgebiet, aus Bocholt, Kassel, Koblenz.
Das Schulgeld betrug bis zu 250 Mark jährlich pro Mädchen; dabei verdiente ein einfacher Lehrer 1600 Mark. Im Jahr.