Essen. . 1918 war der Erste Weltkrieg nicht zu Ende. Seine Heimatfront und seine Folgen im Rhein-Ruhr-Gebiet zeigt die große Ausstellung „1914. Mitten in Europa“ in der Kokerei der Welterbe-Zeche. 2500 Ausstellungsstücke auf 2500 Quadratmetern – darunter das erste Elektroauto im Ruhrgebiet, Baujahr 1903.

Ob Luise Schroth in der Walsumer Kurfürstenstraße aufgeschrien hat? Geweint? Oder ob das Schreiben vom Standesamt sie erstarren ließ an diesem 18. Juni 1917? „Nach der hier eingegangenen Anzeige ist Ihr Sohn Karl den Heldentod fürs Vaterland gestorben. Mit dem Ausdruck innigsten Beileids wird Ihnen anbei eine Abschrift der Sterbeurkunde ergebenst übersandt.“

Vielleicht war Luise Schroth ja im Vaterländischen Frauenverein für den Kriegssanitätsdienst. Und schob einen dreirädrigen Rollstuhl mit einem Beinamputierten. Oder sie arbeitete in der Fabrik, neben Kriegsgefangenen aus Portugal, Italien, Belgien, Serbien, Russland und Frankreich. Bei Krupp standen damals Frauen an den Maschinen, sie packten Rohlinge mit Riesenzangen, schwangen den Hammer, griffen zur Schippe und posierten für den Fotografen breitbeinig auf Eisenbahnloren. Luise Schroth wird wie so viele mit einem „Kriegskochbuch“ versucht haben, ohne Fleisch auszukommen, mit der Bratpfanne, auf deren Rand geschmiedet stand: Der deutschen Hausfrau Opfer: Gab Kupfer für das Eisen hin“. Vielleicht hat sie auch Bucheckern gesammelt für Öl und folgte dem Plakat mit dem barschen Befehl „Kanin-Felle abliefern! Das Heer braucht sie!“

Mörderische Feldhaubitze

Wie das war, damals, im Ersten Weltkrieg an der Heimatfront an Rhein und Ruhr, das lässt die Ausstellung „1914. Mitten in Europa“ in der Kokerei der Essener Welterbe- Zeche Zollverein ahnen, mit 2500 Ausstellungsstücken von Uropas Aspirin-Packung bis zum Zweizylinder-Motorrad Baujahr 1912. Gasmasken, meterlange Panzergranaten, das MG 08/15 und eine mörderische Feldhaubitze gibt es auch. Und auf die gigantischen Kohletrichter der alten Kokerei werden schwarz-weiße Filmausschnitte projiziert, Propagandamaterial zumeist und doch erschreckend gewalttätig.

Aber es geht nicht nur um den Alltag und die Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs. Denn diese große Ausstellung des RuhrMuseums mit dem LVR Industriemuseum bettet diesen Krieg in eine Epoche zwischen dem Kaiserreich Wilhelms II. und der Weimarer Republik samt ihrem Ende in der Nazi-Diktatur. Sie folgt damit der griffigen These des Historikers Hans-Ulrich Wehler vom „30-jährigen Krieg“ im 20. Jahrhundert, der 1918 nicht zu Ende war, sondern bis 1945 dauerte.

Internationales Wettfliegen 1909

Der Beginn des Ersten Weltkriegs aber fiel in eine Zeit des rasenden, vor allem technischen Fortschritts, der viele zu den schönsten Zukunftshoffnungen verleitete. 1903 fuhr im Revier schon das erste Elektroauto (das mit knallroten Lederpolstern und einem Sitzbock noch eher wie eine E-Kutsche wirkte), allerorten schossen die Bahnhöfe wie Pilze aus dem Boden, in Köln gab es 1909 ein „Internationales Wettfliegen“ mit Ballons, zeppelin-artigen „Luftkreuzern“ und abenteuerlichen Doppeldeckern. Es gab die ersten großen Warenhäuser, Kaiser’s war stolz auf über 1000 Filialen – „Europas größter Kaffeeröster!“

Die Städte begannen, sich um die Gas-, Strom- und Wasserversorgung zu kümmern, ein großbürgerliches Haus am Duisburger Kaiserberg hatte die erste, freilich noch monströse Waschmaschine im Keller und es gab die ersten Befreiungsbewegungen bei Frauen, die sich nicht mehr in Korsettpanzer schnüren lassen wollten, um eine damals als Ideal kursierende Taille zwischen 45 und 48 Zentimentern zu bekommen. Und am schnellsten rollte der Fortschritt in der Region zwischen Köln und Dortmund voran, die damals noch viel mehr als Einheit wahrgenommen wurde als heute.

Kriegsverbrechen und Revolution

Der Fortschritt aber hatte ein Doppelgesicht. Im Krieg, der zum ersten industriellen Morden wurde, mit Fernsprechern, Panzern und Kampffliegern, zeigte er seine hässliche Fratze. Wer mit Pickelhaube und Degen hineingezogen war, kehrte mit Stahlhelm und Maschinengewehr zurück – aber nur mit Glück. Selbst die Propagandamaschinerie an der Heimatfront lief auf Hochtouren, wer spendete, durfte an martialischen „Nagelbildern“ und „Nagelfiguren“ mithämmern.

Fahrt und Eintritt

Zur Ausstellung gelangt man vom Wiegeturm der Kokerei nach anderthalb Minuten Fahrt mit der Standseilbahn.

„1914. Mitten in Europa.“ Bis 26. Oktober. Kokerei Zollverein Essen, Arendahls Wiese. 2500 Objekte. Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt: 10 €, erm. 7€, Kinder bis 14 frei. Audioguide: 3 €, Katalog: 342 S.

Die detail- und aspektreiche Ausstellung streift auch Kriegsverbrechen der Deutschen, die in den ersten Tagen des Krieges willkürlich 6000 Zivilisten im neutralen Belgien erschossen. Überhaupt entfesselte der Erste Weltkrieg eine Gewalt, die auch nach der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. (dessen Umzugskiste das holländische Haus Doorn zur Verfügung stellte) nicht aufhörte. In der Revolution und besonders im Ruhrkampf nach dem Krieg gab es standrechtliche Erschießungen auf offener Straße, „und die Männer haben sich in Dinslaken in Schützegräben eingebuddelt, wie sie das von der Front kannten. Der Krieg kehrte als Revolution ins Revier zurück,“ sagt Theodor Heinrich Grütter, Chef des Ruhrmuseums.

Schade nur, dass wir nicht wissen, was Luise Schroth darüber gedacht hat.