Essen.
Wer in diesen Tagen zurückblickt, schaut als Essener auch auf ein bewegtes Jahr als Europäische Kulturhauptstadt seiner Heimat. Wir haben unsere Mitglieder des Leserbeirates gefragt, welche Bilanz sie zur Kulturhauptstadtjahr ziehen.
Herausgekommen ist ein Potpourri aus persönlichen Sichtweisen auf außerordentliche zwölf Monate in Essen.
Frank Bärenbrinker:
„Das Jahr als Kulturhauptstadt hat Essen und seinen Bürgern gut getan. Ungeachtet schmerzlicher Etatdebatten, mancher Baustellen und Fehlplanungen war die Stadt selten so lebendig, so im Aufbruch begriffen. Faszinierend, wie trotz Eiseskälte die Eröffnung auf der Zeche Zollverein, trotz Sommerhitze und Überfülle das Still-Leben A 40 die Bürger des Ruhrgebiets zusammenbrachten und begeisterten.
Beeindruckend, wie gemeinsame Aktionen das Selbstbewusstsein der Region stärkten. Erfrischend, welche Weite Kultur erfahren hat und wie deutlich ihre tägliche Präsenz wurde. Ermunternd, dass manch überfällige städtebauliche Erneuerung wie die Wiederbelebung des Segeroth mit neugestaltetem Unipark und dem Abriss der düster-trennenden Bahnübergänge in Angriff genommen wurde.
Ich wünsche mir, dass der Geist dieses Jahres auch in die Zukunft trägt: ohne Alltags- und hohe Kultur gegeneinander auszuspielen, mit einem Bekenntnis von Bürgern und Politik zur Kultur. Ich genieße die Kulturvielfalt des Ruhrgebietes! “
Claudia Steckenborn:
„Rückblickend kann ich zu „unserem“ Kulturhauptstadtjahr sagen, dass ich das erste mal ausgesprochen stolz auf „meine“ Stadt bin. Es wurden eine Vielzahl zusätzlicher Veranstaltungen auf die Beine gebracht, die in der Regel stark besucht waren. Schon immer gehe ich regelmäßig ins Theater, besuche Ausstellungen, gehe mit Leidenschaft in die Lichtburg, besonders zu Premierenveranstaltungen.Daher war es mir in diesem Jahr ein besonderes Vergnügen, noch öfter kulturell unterwegs sein zu können.
Selbst für meine doch noch relativ kleinen Kinder war das Jahr ein interessantes. In der Schule war die Kulturhauptstadt Thema und auch in den Sommerferien, da die Jungs zu den Atollen ruderten. Viele meiner Freunde, die bundesweit verstreut leben, haben immer wieder etwas über die Kulturhauptstadt Essen gelesen oder etwas darüber im Fernsehen gesehen.
Ein Höhepunkt waren für mich die gelben Ballons am Himmel. Tolle Idee, ehemalige Zechen zu kennzeichnen! Ich glaube, die meisten Essener waren überrascht über die Vielzahl der Ballons. Gerne habe ich auch die Touristen beobachtet, vor allem asiatische, die oft in großen Gruppen sich mit Regenschirm vor der Sonne schützend am Baldeney-See entlang spazierten. Abschließend glaube ich kann man sagen, dass Essen, vor allem das Ruhrgebiet, in der Welt - vor allem aber im restlichen Deutschland - nicht mehr als grau, schmutzig und arm an Kultur angesehen wird. Wir sind grün, lebhaft und reich an Kultur (mit einer Vielzahl an verschiedenen Kulturen - und das ist gut so).“
Lutz Friedrich:
„Die Macher von Ruhr 2010 haben eindrucksvoll bewiesen, dass an der Ruhr endlich zusammenwächst, was zusammengehört. Wir sind das Ruhrgebiet. Wir sind EIN Ruhrgebiet. Wir sind eine starke Gemeinschaft, die nicht länger auseinanderfällt in einzelne Städte. Wir leben mehr denn je miteinander, statt einfach nur nebeneinander her oder aneinander vorbei. Allein, eine gemeinsame Metropole zu „haben“ reicht nicht aus – wir müssen sie auch „sein“.
Besonders jungen Menschen eröffnet das eine einzigartige Perspektive. Der Ballungsraum bietet mehr Chancen denn je. Der Gedanke daran treibt uns an. Wir identifizieren uns mit der Region. Es ist wieder „cool“, aus dem Ruhrgebiet zu kommen. Zusammen mit Herbert Grönemeyer ruft die nächste, meine Generation in die Welt hinaus: „Komm zur Ruhr!“. Das ist das Verdienst des Kulturhauptstadtjahres.“
Martin Lehnert:
„Die Eröffnungsfeier war für mich ein ganz großes Highlight, sie war kreativ, inspirierend, optisch ein Hochgenuss. Wenn ich nur den uns vorgesetzten Vorzeige-Londoner, äh sorry Bochumer, H. Grönemeyer besser leiden könnte.
Zur Außendarstellung: Beim Umgang und Gespräch mit Mitmenschen dieser Region wurde ich derbe enttäuscht. Fast niemand wusste mit dem Begriff „Local Hero “ etwas anzufangen. Wer mit dem Projekt Kulturhauptstadt nicht direkt etwas zu tun hatte, dem fehlte meiner Meinung nach der Zugang, was den Umfang des Gesamtprogramms betrifft. Viele wussten nicht, dass Kleve oder Xanten irgendetwas mit dem Hauptstadtrummel zu tun haben.
Die amateurhaften Atolle auf dem Baldeneysee waren ganz schlecht. Viel Geld ausgegeben, null Werbung in der Sache, weil man vom Ufer aus nichts erkannte, Tretboot- Anstehen und fahren nicht mit unserer 85 Jahre alten Tante Irene machbar ist. Man fährt enttäuscht heimwärts und haut wieder auf alles und jeden, der für Kunst Geld ausgeben will. Ganz klar eine verpasste Möglichkeit zu einer tollen Idee!
Das Projekt Still-Leben A40 war dagegen grandios, tolle Idee, tolle Ausführung, tolle Leute. Wunderbar, der Höhepunkt des Jahres, mehr konnte nicht kommen! Insgesamt haben viele von der Kulturhauptstadt profitiert: Handel, Gastronomie, Taxifahrer, Hotels.“
Renate Gayk-Sang:
„Ich lebe gerne in Essen, mir die ganze Region sehr am Herzen. Mein Traum ist es, wenn Frieden, Beschaulichkeit und etwas mehr Flair aus den 60erJahren in der Region bewahrt würden. Denn trotz stetigen Fortschritts muss man nicht alles zerstören was gut war.
Das Kulturangebot insgesamt sprengt den Rahmen. Kultur ist eine der wichtigsten Botschaften für Völkerverständigung. Toleranz, Rücksichtnahme, Manieren, Achtung und Respekt anderen gegenüber sind für mich ganz wichtige Faktoren. Jeder kann dazu beitragen.
Aber das erfordert Disziplin, Bodenständigkeit und Leidenschaft für eine Sache. Deshalb darf die Kulturhauptstadt-Idee nach diesem Jahr nicht vergessen werden. Unsere Politiker müssen dem Titel weit über das Jahr 2010 hinaus gerecht werden. Dazu bedarf es eine klare Vorgabe - durch gute Pragmatiker und Visionäre.“
Margret Dissen:
„Meine Bilanz zum Kulturhauptstadtjahr 2010 kann ich am Besuch von drei Veranstaltungen festmachen: „Das große Spiel“ im Ruhrmuseum/Zollverein habe ich mir mehrfach angesehen, die Vorträge des Rahmenprogrammes gehört. Beeindruckt hat mich die Aufführung von Haydns „Schöpfung“ in der kleinen Gemeinde Schermbeck. Festlichkeit und Stolz auf die gelungene Darbietung schufen ein bewegendes Gemeinsamkeitsgefühl, das alle Besucher, die Einwohner wie Gäste, einschloss.
Schließlich habe ich mir zusammen mit der Familie die künstlerischen und politischen Botschaften der Ruhratolle erfahren, an einem kühlen und hellen Morgen. Im Kulturhauptstadtjahr hat sich mein Zugehörigkeitsgefühl für meine Region verstärkt und erweitert, in einiger Hinsicht auch neu gebildet.“
Mirjam Scholz:
„Als Essen den Zuschlag zur Kulturhauptstadt bekam, hab’ ich mich riesig gefreut. Und voller Ambitionen bin ich dann auch ins Kulturhauptstadtjahr gestartet. Allerdings: Ich finde, ich habe zu wenige Angebote während dieses Jahres genutzt. Es gab eine Menge spannende Projekte, große wie kleine, die ich alle gerne mitgenommen hätte, ich hatte aber dafür nicht die Zeit. Schade. Es bleiben jedoch die schönen Erinnerungen an interessante Museumsbesuche, die Bilder der Ruhratolle. Und das eindrucksvollste Ereignis war das Still-Leben auf der A 40.
Besonders begeistert war ich von den Schachtzeichen, das hatte für mich eine große Symbolik für das ganze Ruhrgebiet - von Abbaugebiet zum Kulturfass! Essen und dem gesamten Ruhrgebiet wird durch die Kulturhauptstadt langfristig ein besseres Image anhaften. Es war schön und viel zu schnell zu Ende!“
Hans-Ulrich Philipsenburg:
„Mit bangem Blick auf die Wetterkapriolen des Eröffnungstages verfolgten wir die großartige Show mit engagierten Darstellern in der Zeche Zollverein im F ernsehen. Begeisterung - das Wetter war nicht mehr wichtig! Was sollen wir uns als Nächstes ansehen und anhören? Sollen wir in unserem Stadtteil Bredeney selbst etwas Kulturelles machen? Eigentlich eine gute Idee, aber was machen?
Als erstes Mitstreiter finden! Das ging relativ schnell, am Freitag, 28. Mai 2010, war es dann so weit: Der Programmablauf sah für den Nachmittag die Tanzvorführung der Graf-Spee-Schule, ein Märchenzelt mit Vorleser und eine Theater/Musical-Aufführung (Ritter Rost) an der Meisenburg Grundschule vor. Hinzu kamen ein Vortrag zur Geschichte Bredeneys, das Konzert des Schulorchesters der Goetheschule, die Bigband der Musikschule Tonart und zwei Kabarettisten in der Kirche „Am Brandenbusch“.
Puuhhh, war das alles sehr anstrengend und aufregend, aber alle Beteiligten waren glücklich. Der Anklang im Ortsteil war sehr groß und so können wir heute schon sagen, dass wir im nächsten Jahr 2011 am gleichen Datum eine Neuauflage des Kulturtages in Bredeney planen, denn einmal Kulturhauptstadt - immer Kulturhauptstadt. Der Zuspruch der Besucher hat uns Mut gemacht.“