Essen-Werden. Das abendliche Pandemie-Geläut der evangelischen Kirche in Werden ist manchen Trost. Andere sind total genervt. Ein Ortstermin mit Betroffenen.

Seit März läuten allabendlich die Kirchenglocken: Die gemeinsame Aktion von Katholiken und Protestanten soll den Menschen durch die schwere Coronazeit helfen. Doch jetzt gibt es Misstöne: Anwohner in Werden sind vom Geläut der evangelischen Kirche genervt und fordern, dass das Läuten aufhört. Nun will das Presbyterium die Regelung Ende des Monats auf den Prüfstand stellen.

Ortstermin: Schlag 19 Uhr legen sie los in der Turmspitze. Die drei 104 Jahre alten Glocken der Evangelischen Kirche in Werden. Ihr täglicher Corona-Einsatz dauert gut fünf Minuten. Exakt gar sechs. Denn die tonnenschweren Klangkolosse kommen nicht sofort zum Stehen. Einmal vom Elektromotor angestoßen, pendeln die Glocken am Ende langsam aus. Auch das erzeugt Töne.

Der Baukirchmeister misst 78 Dezibel unter dem Kirchenvordach

Zum Ortstermin mit Anwohnern hat Bodo Besselmann, Baukirchmeister der Gemeinde, ein Schallpegelmessgerät mitgebracht. Der 53-Jährige ist Diplom-Ingenieur, wirkt ehrenamtlich im Presbyterium. 68 Dezibel ergibt seine Messung auf den breiten Stufen, die zum Vorplatz führen. 78 Dezibel sind es unter dem Vordach, direkt am Haupteingang.

Interessiert schaut Vera Tolxdorff auf die Anzeige des Schallpegels. Sie wohnt an der Dudenstraße, oberhalb der Kirche. Die 67-jährige Textil-Designerin konnte sich vom ersten Tag an nicht mit dem Läuten für Corona anfreunden. Mittlerweile sagt sie: „Ich bin verzweifelt.“

Anwohnerin stört das „Gebimmel“ zur Nachrichtenzeit

Mit ihr ärgern sich Nachbarn aus der Dudenstraße sowie Geschäftsleute aus dem Viertel über das Extra-Geläut, weiß sie. Doch nicht jeder hätte den Mut, das öffentlich zu äußern. So steht sie allein gegen die Vertreter der Kirche.

(Bodo Besselmann misst den Schall der Glocken: Anwohnerin Vera Tolxdorff (m.) und Cornelia Alisch vom Presbyterium schauen auf das Ergebnis.
(Bodo Besselmann misst den Schall der Glocken: Anwohnerin Vera Tolxdorff (m.) und Cornelia Alisch vom Presbyterium schauen auf das Ergebnis. © Christof Köpsel

Das übliche Läuten belästige sie nicht. „Doch abends um 19 Uhr möchte ich in Ruhe die ZDF-Nachrichten sehen“, erklärt die Witwe. Beim „Gebimmel“ zur Heute-Sendung könne sie in ihrer Wohnung kein Wort mehr verstehen. „Da muss ich den Ton extrem laut stellen.“ Selbst mit Kopfhörern habe sie es probiert, aber die Sendung nicht ungestört verfolgen können.

Ein Umzug kommt für die Beschwerdeführerin nicht infrage

Dass manche Menschen in Corona-Zeiten aus Solidarität Kerzen in die Fenster stellen oder stille Gebete sprechen, kann Vera Tolxdorff verstehen. Auch wenn sie das nicht praktiziere. Mit der Kirche brach sie gleich nach der Konfirmation.

Neun Monate habe sie 1997 nach einer schönen Wohnung in Werden gesucht. Die wolle sie nicht aufgeben, ein Umzug käme also nicht infrage. „Der Glaube ist eine Privatangelegenheit“, meint sie. Man solle die Bürger nicht mit solchen Aktionen bevormunden.

Zum Gottesdienst, zur Mahnung oder zum Gedenken

Kirchenglocken läuten seit jeher zum Gottesdienst, aber auch zur Mahnung oder zum Gedenken. In besonderen Zeiten übernehmen die Geläute neue Aufgaben, wie eben jetzt zur Pandemie.

„Nichts ist für die Ewigkeit“, sagt Stefan Koppelmann, Pressesprecher des Evangelischen Kirchenkreises Essen zum Glocken-Debakel. Die Dreierkombination, die zu Beginn der Pandemie jeden Abend in Essen und anderswo Trost und Kraft schenken sollte – Glocken, Kerzenschein und Vaterunser – sei zunächst von der katholischen und evangelischen Kirche empfohlen worden. Entscheiden durften die Gemeinden und Pfarreien aber selbst über das Ob und wie lange.

Das Geläut gibt es als Audio-Datei

Seit Pfingstsonntag feiert die Evangelische Kirche an der Heckstraße wieder sonntags von 10.30 bis 11.30 Uhr Präsenzgottesdienste in der Kirche, unter Beachtung der ­Corona-Verhaltensregeln.

Weiter bietet die Gemeinde Videogottesdienste an. Im Internet findet sich eine Audio-Datei des Sonntags- bzw. ­Corona-Geläuts über die Homepage der Kirche (www.kirche-werden.de).

Die drei Glocken der evangelischen Kirche mit den Tönen A, C und D wurden 1916 vom Bochumer Verein gegossen. Die Kirche hat das Baujahr 1900. Der erste Glockensatz war im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen worden.

Basilika läutet abends seit jeher aus traditionellen Gründen

Jürgen Schmidt, Chef des Katholischen Stadtdekanats Essen, und Superintendentin Marion Greve hatten stadtweit zu Solidarität und Ermutigung aufgerufen. Mittlerweile hätten die meisten Gemeinden von Bergerhausen bis Dellwig das Corona-Läuten wieder eingestellt, weiß Koppelmann.

Wenn abends um 19 Uhr in Werden auch die Glocken der Basilika an der Brückstraße erklingen, hat das andere Gründe. „In St. Ludgerus wird seit jeher morgens um 7 Uhr, um 12 Uhr sowie um 19 Uhr geläutet. Das ist Tradition“, sagt Propst Schmidt.

Es gibt sakrales Läuten und das Schlagen der Zeit

Außer in Werden hält in Heidhausen noch die Jona-Kirche Am Schwarzen glockenmäßig Corona die Stange, ebenfalls um 19 Uhr, weiß Bodo Besselmann. Klagen gebe es keine. „Bei Streitigkeiten um die Lautstärke von Kirchenglocken unterscheiden Experten generell zwischen sakralem Läuten und dem Schlagen als Zeitangabe.“ Das Corona-Läuten liege wohl in einer Grauzone.

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„Bis heute haben wir viele positive Rückmeldungen“, betont Cornelia Alisch beim Ortstermin. Die Vorsitzende des Presbyteriums pflegt viele Kontakte zu Gläubigen. Umso mehr habe sie die Beschwerde einiger Anwohner in einem TV-Beitrag überrascht. „Mit uns hat keiner gesprochen“, erklärt sie. Das wehrt die Gegenseite ab. Doch vielleicht kehrt um 19 Uhr bald Ruhe ein im Turm: Was das Corona-Läuten betreffe, sei nichts zementiert, sagt Alisch. In einer Sondersitzung wird das Presbyterium Ende Juli das Thema erörtern.

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