Essen. Viele Kinder in Essen sprechen bei der Einschulung kein oder kaum Deutsch. Die Defizite sind in der Grundschulzeit oft nicht aufzuholen.
Als der CDU-Politiker Carsten Linnemann kürzlich eine Vorschulpflicht für Kinder mit Deutsch-Defiziten forderte, löste er eine lebhafte Debatte aus. Mit dem von ihm benannten Problem hat allerdings auch die Stadt Essen zu kämpfen: Für 41,5 Prozent der Kinder, die hier im vergangenen Jahr eingeschult worden sind, war Deutsch nicht die Muttersprache. Wie die Schuleingangsuntersuchung weiter ergab, hatten etliche von ihnen keine oder nur unzureichende Deutschkenntnisse.
„Wir können diese Kinder nicht von der Einschulung zurückstellen“, betont Sozialdezernent Peter Renzel. Das sei nur bei erheblichen gesundheitlichen Gründen möglich und betreffe in Essen nicht mal 2 Prozent der angehenden Erstklässler. Von den 5135 Kindern, die 2018 in die Schule kamen, sprachen jedoch 212 (4,1 Prozent) gar kein Deutsch und weitere 379 (oder 7,4 Prozent) nur radebrechend. „Diese Kinder müssen vom ersten Schultag an besonders gefördert werden“, sagt Renzel. Eine Aufgabe, die vor allem die Schulen im Essener Norden bewältigen müssen, wo die meisten zugewanderten Familien leben.
Grundschulen können viele Defizite nicht ausgleichen
Der Arbeitskreis der Schulen im Bezirk V, zu dem Altenessen, Karnap und Vogelheim gehören, hat sich daher vor zwei Jahren mit einem beispiellosen Hilferuf an die Politik gewendet. „Alle Schulen im Essener Norden haben mindestens 50 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund“, sagt Thomas Kriesten, Sprecher des Arbeitskreises und Leiter der Neuessener Schule. Lehrerstellen müssten daher endlich nach einem Sozialindex verteilt werden. Ihm sei bewusst, dass es momentan schwer sei, überhaupt die vorhandenen Lehrerstellen zu besetzen; flankierend könne man auch mit Sozialpädagogen, Erziehern und Sprachmittlern arbeiten.
Die Frage, ob Kinder mit erheblichen Deutschdefiziten in die Schule gehören, stelle sich nicht, sagt Kriesten: „Ein schulpflichtiges Kind gehört in die Schule. Auch wenn es manchen gut täte, erst ein Jahr in Schulkindergarten oder Vorschule zu gehen, aber die gibt es ja nicht mehr.“ Mit der Folge, dass Kriesten auch in diesem Jahr wieder zwei, drei Kinder aufnehmen wird, die gar kein Deutsch sprechen, und viele andere, die sich damit sehr schwer tun. Auch weil manche nie einen Kindergarten besucht haben. „Wenn Kinder sechs Jahre lang zu Hause waren, nie ein Buch in der Hand hatten, ist es schwer, das innerhalb der Grundschulzeit auszugleichen.“
96 Prozent der Schüler mit Migrationshintergrund
Auch der Ansatz, dass ein Kind Deutsch im Klassenverband gleichsam spielend lerne, funktioniere nicht, „wenn nicht genügend Klassenkameraden da sind, die die deutsche Sprache ausreichend beherrschen“. Mit 28 Kindern und einer Lehrerin sei das nicht zu stemmen, das gehe nur mit kleineren Klassen und einer Doppelbesetzung. Immerhin lasse die Stadt, den betroffenen Schulen zusätzliche Stunden zukommen.
Außerdem, betont Sozialdezernent Peter Renzel, profitiere Essen besonders von den 600 zusätzlichen sozialpädagogischen Stellen, die das Land jüngst geschaffen habe: „Wir haben dadurch 82 unbefristete Stellen erhalten.“ Das sei eine echte Hilfe, lobt Hannelore Herz-Höhnke, die die Bodelschwinghschule in Altendorf leitet und auch Zusatzkräfte erhalten hat: „Die schicken wir gleich in die ersten Klassen.“ Schließlich haben 96 Prozent ihrer Schüler einen Migrationshintergrund.
Hannelore Herz-Höhnke macht Hausbesuche bei den Eltern, heuert Ehrenamtliche als Paten für die Schüler an und lotst die Kinder in die Nachmittagsbetreuung, „weil da alle Deutsch sprechen müssen“. Trotzdem fallen die jährlichen Vergleichsarbeiten in der 3. Klasse für sie ernüchternd aus: „Wir sind da immer die Letzten.“ Wie Thomas Kriesten sagt sie, dass die mitgebrachten Defizite in der Grundschulzeit kaum auszugleichen seien; man müsse früher eingreifen.
Schon zwei Jahre vor der Einschulung würden bei den Delfin-Tests die Sprachkenntnisse geprüft: Kinder, die da Defizite hätten, müssten sofort einen Kita-Platz bekommen, fordert die Schulleiterin. „Ich bin dafür, die Vorschule wieder einzuführen.“ Das werde wohl kaum passieren, entgegnet Dezernent Renzel, aber die Stadt vermittle betroffene Kinder ohne Kita-Platz derzeit in Brückenprojekte. Gemeinsam mit dem Bildungsdezernenten Muchtar Al Ghusain wolle er die Zeit zwischen Schuleingangsuntersuchung und Einschulung ins Visier nehmen: „Dazwischen liegt fast ein Jahr, in dem man die Kinder fördern könnte.“