Essen. . Viel mehr Kindern aus Essens Süden gelingt der Sprung aufs Gymnasium. SPD und Bildungsforscher fordern einen Sozialindex bei der Schulausstattung.

Wenn jetzt an Essens Schulen die Zeugnisse verteilt werden, bedeutet das für Viertklässler auch einen Abschied: Nach den Ferien werden sie eine neue Schule besuchen. Ob es sich dabei um ein Gymnasium handelt, hängt erheblich davon ab, wo sie leben: In Bredeney liegt die Übergangsquote zum Gymnasium bei 88 Prozent, in Vogelheim bei mageren 19 Prozent. Die SPD schlägt nun vor, Schulen mit vielen armen und/oder ausländischen Schülern besser auszustatten.

„Die besten Lehrer an die benachteiligten Standorte“

„Wir fordern die Schulentwicklung in Essen, die Verteilung der Ressourcen, nach einem festzulegenden Sozialindex vorzunehmen“, heißt es in dem Antrag, den der SPD-Parteitag jetzt einstimmig beschlossen hat. Zunächst sollten die Schulen erfasst werden, die in einem „benachteiligten Sozialraum“ liegen: Also dort, wo es viele Sozialhilfeempfänger gibt, viele Eltern und Kinder mit Migrationshintergrund und wo der Anteil der Inklusions-Schüler hoch ist. Diese Schulen sollten kleine Klassen bekommen, mehr Sprachförderung, bessere Sekretariats- und Hausmeisterkapazitäten, und „die besten Junglehrerinnen und Lehrer!“

Weiter heißt es in dem Papier: „Die soziale Herkunft darf die Bildungschancen nicht weiter erschweren.“ Eine altbekannte Forderung, die obwohl die SPD lange in Stadt und Land regierte, nicht erfüllt wurde. Im Gegenteil, sagt der Sozialwissenschaftler Prof. Jörg-Peter Schräpler von der Uni Bochum, der die Übergangsquoten zum Gymnasium nach Stadtteilen erhebt: „Von 2003 bis 2014 sieht man, wie sich die Stadtteile weiter auseinander entwickeln.“ Aktuell werde die Situation durch die Flüchtlingskinder noch verschärft. Seit Jahren kämpfe er dafür, dass Schulen nach dem Sozialindex ausgestattet werden: „Es ist höchste Eisenbahn, dass etwas passiert.“

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Erstklässler auf dem Stand von Vierjährigen

Ähnlich hatten es Ende 2017 alle 15 Schulleiter im Bezirk V (Vogelheim, Karnap, Altenessen) formuliert, als sie sich mit einem Hilferuf an Politik wendeten. „Zu uns kommen Sechsjährige auf dem Entwicklungsstand von Vierjährigen“, sagt Thomas Kriesten, der die Neuessener Schule leitet. „Da können wir in vier Jahren Grundschule fantastische Arbeit machen – aber wo stehen sie dann?“ Meist nicht bei einer Gymnasialempfehlung. Ginge es nach ihm, sollte ein Sozialindex auch berücksichtigen, wie die Kinder bei den Schuleingangsuntersuchungen abschneiden.

Er habe in seiner Elternschaft bildungsbewusste Migranten, aber auch Analphabeten oder Schulverweigerer – und „keinen Förderverein, der mal eben drei Whiteboards anschaffen kann“. Er wünsche sich für alle Schulen mit ähnlichen Herausforderungen kleinere Klassen, mehr Lehrer, Sonderpädagogen, Psychologen, Sprachbegleiter, sagt Kriesten. Zwar werde der Standort bei der Schulausstattung bereits berücksichtigt: „Aber es reicht nicht.“

Der Gymnasialbesuch hängt auch vom Wohnort ab

Zusätzliches Lehrpersonal – etwa zur Vermeidung von Unterrichtsausfall oder für die Inklusion – gehe bevorzugt an Schulen „mit besonderen Herausforderungen“, heißt es im NRW-Schulministerium. Aber: „Für die Berechnung des Grundstellenbedarfs wird der Kreissozialindex nicht herangezogen“. Zudem fehle es ja an Lehrern, sagt Essens Schuldezernent Muchtar Al Ghusain. Er verstehe daher nicht, wie man am NC für Lehramtsstudenten festhalten könne.

Al Ghusain kennt die Studien von Prof. Schräpler und wüsste gern, wie das Land auf deren Ergebnisse reagieren wolle. Gleichzeitig gebe es auch Stellschrauben, an denen die Stadt drehen könne, sagt der Dezernent, der seit vier Monaten im Amt ist. Angefangen bei Sekretariatsstellen über den Ganztag bis zu den Gebäuden, in die man in nächster Zeit Millionen investiere. Bei der Fortschreibung des Schulentwicklungsplans wolle man beherzigen, „dass Ungleiches ungleich behandelt werden muss“. Denn dass ein Gymnasialbesuch vom Wohnort abhänge, „kann niemanden ruhig lassen“.

>>> IM NORDEN WACHSEN MEHR KINDER AUF

Der Sozialindex sei nicht nur eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, sagt Prof. Jörg-Peter Schräpler. In den benachteiligten Stadtteilen kämen auch mehr Kinder zur Welt – und gerade die hätten weniger Bildungschancen.

„Wir verlieren Fachkräfte, und gleichzeitig wachsen schlecht ausgebildete junge Menschen heran.“ Hier müsse man gegensteuern: „Da geht es auch um die Zukunftschancen der Region“, so der Sozialwissenschaftler.