Essen. Die evangelische Kirche an der Hattramstraße in Karnap liegt nur 26,5 Meter über Normalnull - weiter runter geht’s in Essen nicht. Ein Spaziergang durch ein ebenso reizvolles wie unterschätztes Quartier, in dem allerdings ziemlich rasch die Keller feucht werden.

Die Bewohner der Mathias-Stinnes-Siedlung wissen schon lange, dass sie an einem der tiefsten Punkte WAZ in der Stadt leben. Der hohe Grundwasserspiegel lässt die Keller regelmäßig volllaufen und die Älteren erinnern sich noch an den legendären Emscherbruch im Jahr 1946: Damals stand das Brackwasser in der kleinen evangelischen Kirche an der Hattramstraße bis zur Empore, mit dem Boot ruderten die Bergleute zur Arbeit. Sie trugen es mit Fassung: Wer täglich bis zu 1000 Meter tief einfährt, den konnte so leicht nichts erschüttern.

Anders als beim höchsten Punkt der Stadt weist kein Schild, keine Tafel auf den tiefsten Punkt hin. Der liegt mit genau 26,5 Metern über dem Meeresspiegel am Rande von Karnap, am äußersten Nordzipfel Essens an der namenlosen evangelischen Kirche. Kein imposanter Sakralbau, sondern ein schlichtes Gotteshaus mit einem provisorischen Betsaal wurde 1898 mit finanzieller Unterstützung des Zechenunternehmens Mathias Stinnes genau an dieser geologisch markanten Stelle erbaut.

100 Jahre gab die Zeche den Takt an

Das Schlichte passte zu der Umgebung, denn hier wurde wenig flaniert dafür viel malocht. 100 Jahre lang, von 1872 bis 1972, gab die Zeche Mathias-Stinnes den Takt an. In ihren besten Zeiten haben knapp 7830 Bergleute jährlich über 2,5 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert. Bis in die neunte Sohle wurden die Schächte getrieben. Das ist Geschichte, und wie in vielen Städten des Ruhrgebietes blieb als einziges Relikt die Zechensiedlung übrig.

Die präsentiert sich rings um die Hattramstraße so charmant, so grün, ja fast pittoresk, wie man es nur aus den schönsten Fotobildbänden übers Revier kennt. Dass die ziemlich hässliche Karnaper Straße, das Müllheizkraftwerk und die Emscher nur ein paar Fußminuten entfernt sind, merkt nicht, wer durch die von Bäumen gesäumten kleinen gepflasterten Straßen läuft, die zu jeder Tageszeit wie frisch gefegt wirken.

Typsche Bergarbeiterhäuser in der Siedlung Mathias Stinnes

Vor den roten Ziegelhäusern luken Gartenzwerge, getöpferte Katzen, abstrakte Skulpturen und Laternen aus dem Gras; neben den teilweise original erhaltenen Holztüren schaukeln hübsch bepflanzte Blumenampeln leicht im Wind. Als wenn sie die Gleichförmigkeit der Siedlung aufbrechen wollten, haben die Bewohner jedem Haus ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Ob das auch für die großen Nutzgärten, die typischerweise hinter den eingeschossigen Bergarbeiterhäusern angelegt wurden, gilt, kann der Spaziergänger nicht feststellen. Hohe Zäune verhindern neugierige Blicke.

„Hier ticken die Uhren anders“, sagt Pfarrerin Anne Bremicker und spricht voller Wärme von Nachbarschaftshilfe und einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Bewohnern der Mathias-Stinnes-Siedlung. Seit 19 Jahren betreut sie bereits die Karnaper Gemeinde und verfolgt intensiv die Veränderungen im Stadtteil. Karnap ist der einzige Essener Stadtteil, der nördlich von Emscher und Rhein-Herne-Kanal liegt, und da Norden im zentralen Ruhrgebiet erst einmal als Problem gilt, sind die Vorurteile mancher Essener groß.

Völlig zu Unrecht, findet Pfarrerin Bremicker. „Es ist unglaublich grün hier und mit Rhein-Herne-Kanal und Emscherpark haben wir inzwischen ein tolles Stück Naherholung, das seinesgleichen sucht“.

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