Essen.. Sie erinnern sich an Puppen, die sie in den Bombennächten fest an sich drückten. An ein weihnachtliche Innenstadt der 1950er-Jahre mit märchenhaft dekorierten Schaufenstern, die weit vom heutigen Glitzer-Trubel entfernt waren: Drei Leserinnen haben uns ihre persönlichen Weihnachtsgeschichten erzählt.

Marlene Dietz ist das Christkind. Gewesen. In ihrem Heimatort in der Nähe von Koblenz war es Sitte, dass ein junges Mädchen ganz in Weiß und mit Schleier als Christkindchen bei den Familien erschien. „Schwätze’ durfte man nicht, wir kannten uns ja alle untereinander.“ Also schwieg sie, nur ihr Glöckchen erklang. „Die Kinder guckten mich so andächtig, so gläubig an. Hinter meinem Schleier hatte ich Tränen in den Augen“, erzählt die 78-Jährige. „Ich bekomme noch heute eine Gänsehaut.“

78 Weihnachtsfeste. Da bleibt von manchem Jahr nur Gleichförmigkeit und Tradition, von anderen brennen sich Erlebnisse ins Gedächtnis. Wie sie mit ihrer Schwester mitten in der Nacht („bis vier Uhr morgens“) Plätzchen backte, als Überraschung für die Kinder. Wie sie viele Jahre vorher mit ihrem Bruder den Baum schmückte, mit Eiszapfen aus Glas. Wie sie, wenn Schnee lag, mit ihren Geschwistern bis zur Bescherung Schlitten fahren ging. „Wenn wir keinen Schlitten hatten, nahmen wir Blechdeckel von Eimern und setzen uns drauf. Hinterher hatten wir Eis-Popos.“

Als Nesthäkchen geboren

Sie waren sechs Kinder. Die älteste Schwester war 1920 zur Welt gekommen, Marlene Dietz wurde 1935 geboren, das Nesthäkchen. Sie erinnert sich, wie die großen Brüder und Schwestern sie verwöhnten. Ein kurzes Glück. Marlene Dietz war vier, als der Krieg ausbrach: „Mein Vater kam nach Russland, zwei Brüder waren bei der Marine. Die halbe Familie war plötzlich weg.“ Die andere Hälfte habe sich um ein schönes Fest bemüht, vor allem für sie.

Marlene Dietz als Mädchen mit der Original-Puppe.
Marlene Dietz als Mädchen mit der Original-Puppe. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Gemeinsam sei man gegen halb zwölf zur Mette gegangen: „Die war auch wirklich um Mitternacht, für die ganze Familie. So einen Mist wie Kindermette am Nachmittag gab es damals nicht.“ Sie kann sich darüber so aufregen wie über das hektische Geblinke an modernen Weihnachtsbäumen. Und sie weiß doch, dass sich ihre eigene Kindheit nicht verklären lässt. Selbst die Käthe-Kruse-Puppe, die sie zu Weihnachten geschenkt bekam, trug später Verantwortung. „Ich hab’ die so gedrückt, wenn Fliegeralarm war.“ Die Mutter habe sich während des Krieges mit ihrem Kummer zurückgezogen, und als ihr Sohn Nikolaus fiel, „wurde sie über Nacht weiß“.

Die Eiszapfen am Weihnachtsbaum sind geblieben

70 Jahre sind seither vergangen, und im Zimmer von Marlene Dietz im Seniorenstift St. Andreas in Rüttenscheid hängt bis heute ein Bild von Nikolaus. Klaus nannte sie ihn, er war ihr Lieblingsbruder. Längst sind auch die anderen Geschwister gestorben, 1990 hat sie ihren ersten Mann verloren, im Jahr 2001 den zweiten. Ihre Familie ist immer kleiner geworden. Vor einem Jahr zog sie von Bad Sobernheim nach Essen, weil ihre einzige Tochter hier lebt. „Das Haus hier ist toll“, sagt sie über St. Andreas. „Aber ich vermisse meine Bekannten.“

Rätsel, Stricken, Computer helfen ihr nicht über die vielen Stunden, die der Tag nun hat. Weil sie nicht gut zu Fuß ist, geht sie wenig aus. Einen Herzenswunsch hat ihr die Theater und Philharmonie (TuP) jetzt auf Bitten der WAZ erfüllt: Am Sonntag durfte sie die eigentlich ausverkaufte Zauberflöte im Aalto-Theater ansehen. Ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk, über das sie sich sehr gefreut hat.

Heiligabend wird sie bei ihrer Tochter feiern, mit dem zwölfjährigen Enkel und dem Schwiegersohn, „der immer sehr schön die Weihnachtsgeschichte liest“. Am Christbaum hängen dann jene gläsernen Eiszapfen, die sie schon als Kind mit dem geliebten Bruder in die Tannenzweige hängte.

Das größte Geschenk war der kleine Bruder

Christa Dittwald erinnert sich an Weihnachten 1953.
Christa Dittwald erinnert sich an Weihnachten 1953. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Monatelang streute sie im Jahr 1953 Zucker auf die Bank, wünschte sich Christa Dittwald doch so sehr eine kleine Schwester. Als ihre Mutter am 18. November Bruder Paul zur Welt brachte, war die damals Vierjährige zunächst bitter enttäuscht. Umso mehr, als sie erfuhr, dass ihre Mutter und das Baby durch Komplikationen noch lange im Krankenhaus bleiben müssen.

So sehr sich ihre eigens aus Franken beorderte Oma – „sie hat die besten Klöße der Welt gemacht“ – auch bemühte: „Es half alles nichts: Sie backte Plätzchen und Kuchen. Aber die vielen kleinen Rituale, die nur eine Mutter richtig macht, die konnte sie ja gar nicht kennen“, erinnert sich die heute 63-Jährige. Ihr Vater, technischer Abteilungsleiter bei Krupp, musste arbeiten, die kleine Christa war mit ihrer Oma in dieser Adventszeit oft allein im gemütlichen Häuschen am Feldhauskamp in Kupferdreh.

Am 23. Dezember aber hatte das Warten ein Ende: „Papa nahm mich auf den Arm und sagte, er hätte bei einem Spaziergang eine Überraschung für mich“, weiß Christa Dittwald noch. Sie erinnert sich sogar an ihre Kleidung damals; „die roten Stiefelchen und ein roter Wollmantel mit Fellbommeln dran“. Es ging in die Innenstadt. Die mittlerweile ehemalige Essener Stadtführerin erinnert sich vor allem an die Schaufenster bei Althoff, heute Limbecker Platz: „Sie waren in eine große Märchenlandschaft verwandelt, Sterntaler, der Wolf, Hänsel und Gretel mit dem Hexenhäuschen.“ Das sei kein Vergleich zum heutigen Glitzer- und LED-Boom in den Innenstädten.

Aus dem Familienalbum: Christa Dittwald mit dem Weihnachtsmann – der brachte oft selbst gestrickte Mützen und Handschuhe oder Kleidung für ihre Puppen.
Aus dem Familienalbum: Christa Dittwald mit dem Weihnachtsmann – der brachte oft selbst gestrickte Mützen und Handschuhe oder Kleidung für ihre Puppen. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Nur mit Mühe konnte sie sich damals vom Schaufenster loseisen: Was sie Zuhause erwartete, übertraf ihre Vorstellungen: „Unsere Wohnung war hell erleuchtet und da saß meine Mutti und strahlte. Neben ihr stand ein Stubenwagen. Darin lag das schönste Baby, das man sich vorstellen kann. Mein eigenes Christkindchen!“, erzählt Dittwald und die kindliche Freude spricht bis heute aus ihr.

Viele schöne Weihnachtsfeste – natürlich auch mit ihren eigenen beiden Söhnen – sind gefolgt. „Aber diese Freude, die ich damals als Kind empfand, hat sich bei mir eingebrannt“, sagt Christa Dittwald. Obwohl die Weihnachtszeit damals weit vom heutigen Überfluss entfernt gewesen sei, habe sie es gut gehabt. Unterm Baum lagen neue Kleider für ihre Puppe oder ein Kinderbesen – „Mädchen wurden damals früh auf ihre Rolle im Haushalt vorbereitet“, sagt Dittwald.

Ebenso wie sie damals verwöhnt wurde, handhabt sie es heute mit Enkel Nanouk. „Er ist fast zwei und das wird das erste richtige Weihnachtsfest für ihn“, sagt eine sichtbar stolze Oma, die am ersten Weihnachtstag Gans mit Rotkohl und Semmelklößen auf den Tisch bringt – so, wie sie das von ihrer fränkischen Großmutter gelernt hat.

Heiligabend wurde ein Extra-Gedeck aufgelegt

86 Jahre alt ist Helena Swist, und sie hat in ihrem Leben vieles verloren. Angefangen mit ihrer Heimat Kolberg in Westpommern; die Stadt heißt seit vielen Jahrzehnten Kołobrzeg und liegt im heutigen Polen.

Elena Swist, die mittlerweile im SeniorenSt.Andreas lebt.
Elena Swist, die mittlerweile im SeniorenSt.Andreas lebt. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Helena Swist ist kein Mensch, der mit solchen Verlusten wortreich hadert. Fast nüchtern erzählt sie, dass nur eins ihrer vier Kinder mit kam, als sie 1988 nach Deutschland ging, ihr Mann war da schon zehn Jahre tot. Und so blieb wenig von der großen Familie, in der sie aufgewachsen war, damals auf einem Bauernhof in Kolberg.

„Wir waren sieben Geschwister, und ich war die Jüngste. Mein Vater hat mich immer sehr verwöhnt.“ Nicht so wie manche Kinder heute verwöhnt werden, zum Beispiel mit zahllosen Weihnachtsgeschenken. Das konnte sich die Familie nicht leisten, es gab von allem zu wenig, „nur Arbeit hatten wir viel auf dem Hof“. Zu Weihnachten hätten die Mädchen meist Puppen bekommen, und die Puppen bekamen beim nächsten Fest neue Kleider, von der Mutter maßgeschneidert. Doch wie es oft geht, werden die ältesten Erinnerungen zu den frischsten, den schönsten. Die 86-Jährige erinnert sich daran, wie sie mit vier, fünf Jahren im Kirchenchor sang, Weihnachtslieder. Und daran, dass sie damals zum Weihnachtsfest immer ein Gedeck mehr aufgelegt haben. „Das war dort eine alte Tradition, falls einmal jemand an unsere Tür klopft.“ Es klopfte nie jemand. Sie hatten auch so eine lange Tafel zu Heiligabend: Wenn die Großmutter mit ihnen feierte, waren sie zu zehnt. Sieben Kinder, die bis nach dem Essen auf die Bescherung warteten.

Die Teller-Tradition ging verloren

Bescheidenheit hätten auch ihre eigenen Kinder lernen müssen, zwei Jungen, zwei Mädchen. „Sie haben Wunschzettel geschrieben, und ich hab’ sie ein wenig ausgefragt“, erinnert sie sich. Aber am Ende habe sie meist nur Kleinigkeiten verschenkten können „Es gab kaum etwas in Polen.“

Bis heute leben zwei ihrer Kinder in Polen, ein Sohn in England. Sie selbst ist vor zwei Jahren ins Seniorenstift St. Andreas in Rüttenscheid umgezogen. Sie ist zufrieden und fühlt sich dort gut aufgehoben, aber Weihnachten ist ein Familienfest, das sie zeitlebens in großer Runde begangen hat. So empfindet sie es als Glück, bei ihrer Tochter, bei den Enkeln feiern zu können. Auch die Tradition mit dem Extra-Teller ist verloren gegangen, blieb wohl in Polen zurück. Aber für die Oma ist selbstverständlich gedeckt.