Essen. . In Essen und Umgebung gibt es kaum Anlaufstellen für junge Drogensüchtige. Das möchte die Selbsthilfegruppe “Szenenwechsel“ ändern. Zu den Treffen kommen Alkoholiker genauso wie Heroinabhängige. Für manche ist es schon ein Erfolg, am Tag nur sechs Flaschen Kräuterschnaps zu trinken.

Es ist ein lauer Sommerabend. Bars, Biergärten und Parks sind voll mit jungen Menschen, die sich austauschen – über das allgemeine Befinden, über Sorgen, Nöte und Neuigkeiten. Wie jeden Freitagabend treffen sich auch Nathalie und Thomas mit ein paar Leuten in der City. Heute sind sie zu fünft. Marco* plaudert von seiner anstrengenden Arbeitswoche und seiner kleinen Tochter, die nächste Woche wieder für ein paar Tage bei ihm sein wird.

Er freut sich sichtlich; und überhaupt gehe es ihm ganz gut. „Ich hab weniger getrunken diese Woche“, sagt der 27-Jährige. Weniger, das bedeutet etwa sechs mittelgroße Flachmänner Jägermeister. Am Tag.

Es gibt keine Patentlösung, um von Drogen wegzukommen

Marco* ist Alkoholiker, er braucht seinen Schnaps morgens, wenn andere Kaffee trinken. Auch jetzt hat er einen Pegel, bei dem viele nicht mehr geradeaus gehen könnten. Doch die anderen zollen ihm Anerkennung. Nicht nur dafür, dass er gerade versucht, sich selbst herunter zu dosieren, sondern vor allem dafür, dass er überhaupt kommt. In diese Runde junger Leute, die alle aus dem gleichen Grund hier sind: Drogensucht.

Dabei ist das Besondere dieser Selbsthilfegruppe namens „Szenenwechsel“ nicht nur, dass man nach Rücksprache auch kommen kann, ohne nüchtern oder „clean“ zu sein, sondern auch, dass es die einzige Anlaufstelle dieser Art für junge Menschen in Essen und Umgebung ist, „für die Sucht ein Thema ist“. So steht es auf dem Flyer, der in Beratungsstellen und Arztpraxen ausliegt und Menschen unter 35 ansprechen soll.

Weil Angebote für diese Zielgruppe bislang fehlten, gründeten Nathalie (33) und Thomas (30) vor zwei Jahren die Gruppe, in der sie weniger auf Programme und vermeintliche Patentlösungen setzen als auf Respekt, Akzeptanz und individuelle Konzepte.

Der Initiator gab 300 Euro pro Tag für seinen Stoff aus

Wie individuell und vielschichtig so eine Drogenkarriere sein kann, wissen die Beiden selbst am besten. Und wenn sie aus ihrer Vergangenheit erzählen, die man ihnen auf den ersten Blick weder ansieht noch anmerkt, glaubt man sich mitunter im falschen Film. „Zum Schluss brauchte ich 300 Euro pro Tag für Stoff“, sagt Thomas über seinen Konsum. Darunter alles, was der Drogenmarkt hergibt: Marihuana, Speed, Ecstasy, Kokain, LSD, Opiate – „zum Schluss“ eben Heroin. „Mit 17 hatte ich zum ersten Mal ‘ne Nadel im Arm“, erinnert sich der 30-Jährige.

Zuvor, in seiner Heimat Traunstein in Oberbayern, war sein alkoholabhängiger Vater früh abgehauen, seine Mutter schwer erkrankt, seine Familie von Suiziden geprägt. „Drama war Alltag, die Drogen Betäubung“, weiß Thomas heute. Er lebte nie auf der Straße, finanzierte seine Leben als Metallbauer und Dealer. „Auf Stoff war ich der effektivste Mitarbeiter“, sagt er, um nicht aufzufallen, habe er sich den Schuss dort immer in die Leisten gesetzt.

Bereits mit 20 Jahren versucht er, von den Drogen los zu kommen. Er brauchte etliche Versuche, 15 Entgiftungen, ein halbes Jahr Untersuchungshaft und zwei Langzeittherapien. Die letzte brachte ihn nach Essen in die „Fähre“, der Suchthilfeeinrichtung mit betreutem Wohnen. Heute lebt er selbstständig, hat zwei Kinder, läuft Marathon, ist seit Jahren clean. Er kennt nun die Ursachen seiner Sucht, aber er weiß ebenfalls, dass sie niemals aufhört.

Ob sie morgen noch clean sind? Vielleicht

Auch Nathalie lebt nach dem Grundsatz: „Heute bin ich clean, was morgen ist, kann ich nicht sagen.“ In ihrer Höchstzeit sind pro Tag fünf bis acht Gramm „Gras“ am Tag draufgegangen, „Speed“ zunächst nur auf Partys, später ging kein Tag mehr ohne.

Der Übergang verläuft schleichend, „vom Spaß zur Sucht ist es nur ein ganz schmaler Grat“, weiß die 30-Jährige. Und dennoch: „Nicht jeder Konsument wird zwangsläufig abhängig.“ Es komme nicht mal auf die Mengen an, sondern darauf, zu welchem Zweck man sie nimmt. Alles, was über reines Vergnügen hinaus geht, sollte einen selbst „zumindest nachdenklich stimmen.“

Und ob ein junger Mensch nur darüber nachdenkt, vielleicht süchtig werden zu können, bereits mittendrin steckt, oder schon jahrelang clean ist – „Szenenwechsel“ soll für jeden eine Anlaufstelle sein. „Die Tür steht für alle offen, nur durchgehen muss man selbst“, so Nathalie.

Marco hat den ersten Schritt getan. Er wird sich demnächst mit der Gruppe das Kamillushaus ansehen. Vielleicht eine Entgiftung machen. Aber er sei eigentlich niemand, der bis übermorgen denkt.

* Name von der Redaktion geändert

INFO:

Die Selbsthilfegruppe „Szenenwechsel“ trifft sich jeden Freitag um 18 Uhr im „Spektrum“ an der Hofterbergstraße 1.

Junge Menschen unter 35 können unverbindlich kommen, Infos unter 0177-8221926.

Seit 1990 sind laut Suchthilfe offiziell 634 Drogentote registriert worden, darunter überwiegend junge Menschen. Die Dunkelziffer sei höher.