Essen. Die Kettwiger Altstadt ist in ihrer Geschlossenheit einzigartig in Essen – und selbst nunmehr 38 Jahre nach der Eingemeindung stellt sich das Gefühl ein, man überschritte die Stadtgrenze.

Eine Fahrt nach Kettwig, ein Gang durch die Altstadt - das ist bis heute ein bisschen wie ein Überschreiten der Stadtgrenze. Es ist erstaunlich: Auch gut 38 Jahre nach der Eingemeindung hat man immer noch das Gefühl, in eine andere Welt zu kommen. Viele Kettwiger werden dieser Diagnose lebhaft zustimmen, und viele Alt-Essener vielleicht auch. Und ja: Was sind denn auch schon 38 Jahre nach einem runden Jahrtausend der Trennung? Bis 1975 hatten Essen und Kettwig schließlich kaum mehr miteinander zu tun als etwa Essen und Mülheim.

Den langen Atem der Geschichte erlebt man in den heutigen Essener Grenzen jedenfalls nirgendwo so flächendeckend und beeindruckend geschlossen wie in der Kettwiger Altstadt. Der städtefressende Bombenkrieg hat den Ort verschont, der zu klein und zu seinem Glück zu unbedeutend war, um ins Visier zu geraten. Und die Abrisswut der Nachkriegszeit blieb auf einige Häuser am Rand der Altstadt rund um das Rathaus beschränkt.

Beliebt als Wohnstandort

So streift man dann mit fast automatisch verlangsamten Schritt durch Gassen, über Treppen und kleine Plätze. Die Bauordnung früherer Jahrhunderte kümmerte sich noch nicht sonderlich um gerade Fluchten. Das eine Fachwerkhaus springt vor, das andere zurück, manche wirken edel saniert, andere warten noch darauf, manches anscheinend auch schon etwas länger. Der Schokoladenblick geht von der alten Brücke über dem Mühlengraben zur Häuserfront, der von der Kirche am Markt überragt wird, dessen Turm immerhin aus dem 13. Jahrhundert stammt. Einfach nett ist das. Von hier bietet sich auch der Beginn eines Rundgangs an, der einen Abstecher an die bildschöne Ruhr-Promenade einschließen sollte.

Schon mancher hat sich bei einem solchen Gang verguckt, und den Beschluss gefasst, hier heimisch zu werden - formal in Essen zwar, aber eben nicht mehr so richtig. Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir feststellen: Ganz billig ist das Wohnen hier nicht, schon gar nicht in den derzeit entstehenden Häusern mit Blick auf die Ruhr. Die Randbereiche der Kettwiger Altstadt öffnen sich zum Fluss. Hier standen die berühmten Tuchfabriken, deren alte, denkmalgeschützte Gebäude entkernt und in piekfeine Lofts umgebaut sind. Die neueren wurden teils abgerissen, die Grundstücke stehen vor der Bebauung.

Der äußerste Südwesten Essens schaut ins Bergische und in Richtung Rheinland, und fühlte sich früher als selbstständige Stadt im Kreis Düsseldorf-Mettmann gut aufgehoben. Kein Wunder, dass der Widerstand lang und hinhaltend war, als das Land den Anschluss an das ungeliebte Essen erzwang. Essen hat Kettwig umgekehrt mit offenen Armen aufgenommen, die Süderweiterung erschien den Stadtvätern weit attraktiver als etwa die ebenfalls diskutierte Aufnahme Bottrops. Ganz unverständlich ist das nicht.

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