Essen. Für manchen ist es das Modell der Zukunft, für andere pädagogisches Wunschdenken:Zu Besuch in einer Essener Grundschule, die das „jahrgangsübergreifende Lernen“ praktiziert

Alena sitzt am Tisch und kringelt in ihrem Heft alle Verben mit rotem Buntstift ein. Auf dem Boden neben ihr hocken Zara und Emily und füllen verschieden geformte Plastikschälchen mit blauer Wassermalfarbe. So entstehen Inseln, Halbinseln und Landzungen, denen sie später die richtigen Begriffe zuordnen müssen – Sachkunde, nicht trocken. In einer anderen Ecke rechnen zwei Jungen im Zahlenraum bis 100.

Es passiert viel in diesem Klassenzimmer, und doch ist es ruhig. Immer wieder gehen Schüler zu Ordnern und Karteikästen oder fragen Klassenlehrerin Sabine Barkoff-Pleines, welcher Aufgabe sie sich als nächstes widmen sollen. Die Kinder beschäftigen sich nicht nur mit unterschiedlichen Themen und Fächern, sie sind auch ganz unterschiedlichen Alters. „Jül“ lautet die sympathische Kurzformel für das, was an der Bückmannshofschule als einer von wenigen Grundschulen in Essen praktiziert wird: jahrgangsübergreifendes Lernen.

Drei gemeinsame Stunden am Tag

Die acht Klassen der Grundschule in Altenessen sind mit Kindern aller vier Jahrgangsstufen besetzt. Der frühzeitig eingeschulte Erstklässler lernt hier neben dem Elfjährigen, der demnächst zur weiterführenden Schule wechselt. Drei Stunden jeden Tag verbringen sie gemeinsam, in dieser Zeit arbeiten sie frei. Sie bereiten sich auf anstehende Aufsätze vor, feilen an ihren Mathe-Fertigkeiten oder recherchieren am Computer für ein Referat. Danach trennen sich ihre Wege, für den Fachunterricht kommen sie ausschließlich mit Gleichaltrigen zusammen.

Schulleiterin Barkhoff-Pleines ist eine Anhängerin dieses Modells, das sich unterschiedlicher Beliebtheit erfreut. Während vor Ort lediglich einzelne Schulen damit experimentieren, hat man es in Berlin vor einigen Jahren flächendeckend an den Grundschulen eingeführt. Jedoch mit mäßigem Erfolg: Ein Drittel aller Standorte, so berichtet die Süddeutsche Zeitung, wird zum Beginn des neuen Schuljahrs wieder zur alten Form zurückgekehrt sein. Andere Schulen in der Hauptstadt bieten beide Varianten an.

Unter den Schulen, die sich von „Jül“ abwandten, waren besonders viele in Brennpunkt-Bezirken. Kinder, die mit wenig Deutsch-Kenntnissen in die Schule kämen, bremsten oft die ganze Gruppe aus, hieß es. Unter diesen Umständen sei das gemischte Modell schwer zu realisieren. Nun sind es auch in Essen vorwiegend Schulen an schwierigen Standorten, die jahrgangsübergreifend arbeiten – neben der Bückmannshofschule in Altenessen etwa die Astrid-Lindgren-Grundschule im Bergmannsfeld.

Überzeugungsarbeit nötig bei Eltern und Kollegen

Sabine Barkhoff-Pleines glaubt nicht, dass die Sozialstruktur hinderlich ist. „Jahrgangsübergreifendes Lernen ist hier nicht schwieriger umzusetzen als im Essener Süden.“ Einfach umzusetzen ist es aber auch nicht, das gelte für alle Schulen gleichermaßen. Wer „Jül“ praktizieren will, muss viel Überzeugungsarbeit leisten – bei den Eltern, die sich zunächst eine Lernsituation wie früher in der Dorfschule vorstellen, aber auch bei den Kollegen.

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In der Lehrerausbildung kommt Jül nicht vor. „Es steht und fällt mit dem Kollegium“, sagt Barkhoff-Pleines. An der Bückmannshofschule gestaltet man das gemeinsame Lernen zudem gemäß der Montessori-Pädagogik, und für die entsprechenden Materialien braucht es schlichtweg Geld, das von Sponsoren kommen muss.

An Rückkehr sei nicht zu denken

Barkhoff-Pleines glaubt, inzwischen viele ins Boot geholt zu haben, die einstmals skeptisch waren. Eltern lädt sie ein, sich selbst ein Bild zu machen. Was sie sehen, sagt die Schulleiterin, sind Kinder, die sich gegenseitig an die Hand nehmen – jeder Erstklässler bekommt einen Paten aus Klasse drei zur Seite –, und die in der Freiarbeit passgenau ihre Defizite verbessern oder sich neue Herausforderungen suchen können.

Den klassischen Einwand, leistungsstarke Kinder würden durch das gemeinsame Lernen ausgebremst, lässt Barkhoff-Pleines nicht gelten. „Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann einen leistungsstarken Erstklässler viel besser fördern, wenn nur sechs davon im Raum sind.“ An Rückkehr zum alten System sei für sie und ihre Kollegen nicht zu denken. „Wir können uns nicht vorstellen, jemals wieder anders zu arbeiten.