Essen. Wegschauen oder reagieren? Eine Essenerin sorgt sich um das Wohl eines 14-jährigen Nachbar-Mädchens. Nun hat sie das Jugendamt eingeschaltet – und bis heute keine Rückmeldung bekommen. Das Amt sagt, es nehme jeden Fall ernst und erklärt, wie es in solchen Fällen reagiert.
Ein vernachlässigtes Mädchen, eine besorgte Nachbarin – und das Gefühl, dass das Jugendamt nichts tut. Das Amt sagt: „Wir nehmen jeden Fall ernst.“ 300 Kinder nahm es im Jahr 2011 sofort aus ihren Familien.
Manchmal sieht sie Laura* noch durchs Fenster und winkt der 14-Jährigen zu. Maria Kellermann* will dem Mädchen zeigen: „Ich hab’ dich nicht vergessen“. Laura hat früher mit ihren Kindern gespielt, kam zur Nachhilfe. Das habe Lauras Mutter nun untersagt, da Maria Kellermann das Jugendamt informiert hat.
"Ob Gewalt im Spiel ist, wissen wir nicht"
Die Nachbarin sorgt sich: „Ob Gewalt im Spiel ist, wissen wir nicht.“ Aber die 14-Jährige sei völlig verwahrlost, gehe mit immer gleichen, nicht passenden Kleidern zur Schule. „Da wird Laura ausgegrenzt und gemobbt“, hat Maria Kellermann von dem Mädchen erfahren. Laura habe in letzter Zeit oft jämmerlich geweint, habe gebrüllt, dass sie nicht mehr nach Hause wolle, sei nicht zu beruhigen gewesen: „Dabei ist sie sonst ein ruhiges, verschlossenes Mädchen.“ Maria Kellermann will helfen, ist nun aber selbst hilflos und enttäuscht: „Immer wieder hört man, dass Nachbarn nicht wegschauen dürfen.“ Nun hat sie das Jugendamt eingeschaltet – und bis heute nichts gehört. „Tut sich überhaupt was?“
Mehr öffentliche Aufmerksamkeit
Ulrich Engelen, stellvertretender Amtsleiter des Jugendamtes, hat Verständnis dafür, dass Melder auf einen Rückruf seiner Mitarbeiter hoffen. Doch jeder noch so oberflächlich gehaltene Rückmeldung ist auch schwierig, weil sie das Datenschutzgesetz verletzt, sagt er. Das beginnt schon mit der Information, dass das Jugendamt die betroffene Familie besucht hat.
Die Sozialpädagogen und -arbeiter haben ihre Arbeitsplätze in neun Außenstellen in den Stadtbezirken. Im Vorjahr bekamen sie 1060 Meldungen, bei denen sie sofort tätig geworden sind. Diese Zahl wird 2012 noch überschritten werden, sagt Engelen. Vor fünf Jahren waren es rund 700. „Das sind keine Fälle, in denen ein Kind zu spät zum Unterricht kommt, sondern akute Kinderschutzfälle, sagt es Engelen, der vom Kevin-Effekt spricht. Mit dem Tod des Jungen wurde 2006 erstmals ein Fall öffentlich, in den ein Jugendamt involviert war, sagt Engelen. „Danach ist die öffentliche Aufmerksamkeit deutlich gestiegen.“
Fachleute müssen die Situation betrachten
Kommen die Meldungen über Gewalt, Missbrauch oder Misshandlungen beim Jugendamt an, rücken zwei Mitarbeiter aus: in Kitas, Schulen oder zu den Familien. Sie müssen Zugang zu den Eltern finden, ohne dass das gleich die Nachbarn erfahren. In der Regel gelingt es ihnen, die erste Aufgeregtheit der Betroffenen aufzulösen, so dass ein Gespräch möglich ist, sagt Engelen. Zudem müssen die Fachleute die Situation betrachten, um das Gefahrenpotenzial für das Kind einschätzen zu können. Hinweise kann eine schimmelige und absolut vermüllte Küche geben oder eine in Kinderhöhe abgeknibbelte Tapete im Kinderzimmer, in dem das Kind vielleicht tagelang eingesperrt ist.
„In 80 Prozent der gemeldeten Fälle besteht Handlungsbedarf“, sagt Engelen. In den meisten geht es um Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder suchtkranken Eltern. Ein steigendes Problem seien die psychischen Schwierigkeiten der Eltern und Kinder, die in der Schule über und Tische und Bänke gehen oder Mitschüler im Internet mobben, sagt Engelen.
Jugendarbeitsmitarbeiter nahmen 300 Kinder mit
300 Kinder nahmen die Jugendamtsmitarbeiter bei ihrem ersten Besuch sofort mit, gegen den Willen der Eltern oder zumindest ohne Zustimmung, weil etwa der Vater betrunken war. Sie nehmen aber mit den Eltern spätestens nach wenigen Tagen Kontakt auf, um einen Hilfeplan für das Kind zu erstellen. Das bleibt so lange bei Bereitschaftspflege-Eltern oder in einer Schutzeinrichtung. In 130 Fällen landeten Jugendamt und Eltern vor Gericht, weil sie sich über die Hilfen nicht einig geworden sind. Das Gericht kann den Eltern enge Auflagen machen oder sogar die Vormundschaft entziehen.
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Kehrt ein Kind in seine Familie zurück, wird diese bis zu zwei Jahre von den Sozialpädagogen begleitet. In etwa 30 bis 50 Prozent kommt es erneut zu kritischen Situationen, sagt Engelen. Eine Statistik über Rückfälle gebe es nicht. Eine Rückmeldung hat Maria Kellermann inzwischen vom Jugendamt erhalten, ganz ohne Details, aber mit der Zusage, dass alle Hinweise ernst genommen werden. Und dass solche Meldungen wie ihre wichtig sind. Das immerhin hat die Nachbarin zumindest etwas beruhigt.
Meldung anonym möglich
In Essen leben insgesamt 2500 Kinder und junge Erwachsene bis 21 Jahre, die regelmäßig Hilfeleistungen und erzieherische Hilfen erhalten. Darunter sind rund 550 Minderjährige, die in Heimen und rund 600, die in Pflegefamilien leben. In 900 Fällen erhalten Familien Hilfen bei sich zu Hause.
Auf Hinweise sind die Jugendamtsmitarbeiter angewiesen, sagt Ulrich Engelen. Bei ihnen melden sich Nachbarn, Bekannte oder Familienmitglieder. Etwa die Hälfte entscheidet sich dafür, anonym bleiben zu wollen. „Das können wir zusichern, auch wenn es vor Ort bei der Familie oft hilfreich ist, wenn wir sagen können, dass sich zum Beispiel der Nachbar an und gewandt hat“, erklärt Engelen. Eine absolute Ausnahme sei es, dass sie Türen mit Hilfe von Polizei öffnen lassen müssen, wenn etwa ein Säugling dahinter schreit. Die Polizei wiederum macht dem Jugendamt Gewaltschutzanzeigen, wenn Kinder Zeugen von Gewalt werden, zum Beispiel weil Eltern sich streiten. 2011 gab es 216 Fälle, in denen 488 Kinder betroffen waren.
Zum Alltag der Jugendamtsmitarbeiter gehört aber vor allem auch die Prävention, damit es gar nicht erst zur Gewalt gegenüber Kindern kommt, erklärt Engelen. Beim Babybesuchsdienst etwa gehen die Mitarbeiter zu allen Familien, in denen vor kurzem ein Baby geboren worden ist, um sich vorzustellen und den ersten Kontakt zu knüpfen.