Essen. . In den 1960er Jahren kam der Orden der Karmelitinnen nach Essen-Stoppenberg und baute an der uralten Stiftskirche ein Kloster. Schwester Joseph Maria ist seit Beginn dabei. Die Karmelitinnen leiten ihre Ordensregeln von der Lebensführung der Einsiedler ab.
Niemand würde am Rand der lärmenden Stoppenberger Straße einen wahrhaft mystischen Ort vermuten. Und doch: Wer in die schmale und steil ansteigende Schwanhildenhöhe einbiegt, betritt eine andere Welt. Der Stoppenberg, welcher der ehemaligen Bauernschaft den Namen gab, ist keine Halde, sondern eine der wenigen natürlichen Erhebungen im Essener Norden.
Die romanische Kirche, die vor fast tausend Jahren auf Geheiß der Essener Äbtissin Schwanhild errichtet wurde, ist von der Straße aus nur dann sichtbar, wenn die hohen Bäume kein Laub tragen. Hierhin zieht es Menschen mit besonderen Anliegen: Geschichts- oder Architekturkundige etwa, die den Taufstein aus dem 12. Jahrhundert bewundern wollen, oder auch Trauernde, die wissen, dass sie im Schatten der Kirche Mitgefühl und Beistand erfahren.
Man muss das Bauwerk aus Ruhrsandstein ganz umrunden, um ihn zu finden, den Eingang zum Kloster Maria in der Not. Es ist in den 1960er Jahren vom Orden der Unbeschuhten Karmelitinnen gegründet worden. Angemeldete Besucher werden im Sprechzimmer von Schwester Joseph Maria empfangen. Mehr als zwei Jahrzehnte war die heute 82-Jährige die Priorin des Klosters. Ihre Mitschwestern haben ihr alle drei Jahre durch die Wiederwahl das Vertrauen ausgesprochen, solange, bis Mutter Joseph Maria 2009 beschloss, das Amt in jüngere Hände zu geben.
Ein fester, warmer Händedruck
Eine der beiden Pfortenschwestern, die auch für die 17-köpfige Ordensgemeinschaft einkaufen und Behördengänge erledigen, weist Besuchern den Weg. In einem schmalen schmucklosen Raum stehen zwei Stühle vor einem vergitterten Mauerdurchbruch, dessen weiße Läden geschlossen sind. Sonst sitzen hier Rat- und Trostsuchende oder Angehörige der Ordensfrauen.
Tiefe Ruhe umgibt die Wartenden. Wenn sich schließlich die Läden auf der anderen Seite des Gitters öffnen, schaut der Besucher in ein so vorbehaltlos freundliches Gesicht, dass jegliches Befremden schwindet. Auch durch Gitterstäbe ist ein fester, warmer Händedruck möglich. Seit Jahrhunderten symbolisiert das Gitter die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt und die Abgeschiedenheit, die das Leben der Karmelitinnen kennzeichnet.
Die Karmelitinnen leiten ihre Ordensregeln von der Lebensführung der Einsiedler ab, die sich zu Kontemplation und Gebet in das israelische Karmel-Gebirge zurückzogen. Auch die Schwestern des Klosters Maria in der Not am Stoppenberg leben in strenger Klausur, die ihnen weder erlaubt, ihren Karmel, wie sie ihr Kloster nennen, zu verlassen, noch anderen gestattet, ihn zu betreten. Nur in Notfällen hat ein Handwerker oder Arzt – und noch viel seltener ein Fotograf – Zutritt.
Einen bescheidenen Lebensunterhalt verdienen die Schwestern mit dem Backen und dem Verkauf von Hostien. Nebenher bestellen sie den Klostergarten. Sie verzichten auf Fleisch und viele andere kulinarische Genüsse, beschränken ihre Habe auf das Allernötigste und schweigen bis auf zwei Stunden am Tag, in denen sie sich zum Gedankenaustausch und zum Bibelgespräch treffen.
Ein offenes Ohr und ein gutes Wort
Nur Schwester Joseph Maria ordnet für sich das prinzipielle Schweigegebot dem Gesprächsbedürfnis von Anrufern und Besuchern unter. Wer sie braucht, findet bei ihr ein offenes Ohr und ein gutes Wort, wenn das Leid es verlangt, sogar nachts. Sie fühlt sich der Welt, die mit ihrem Leben so wenig gemein hat, durchaus verbunden.
„Damals, als wir hierher gezogen sind arbeiteten rings um den Stoppenberg noch 13 Zechen und Kokereien. Ihre Feuer haben nachts unsere Zellen erhellt.“ Wenn morgens um 5.20 Uhr zum Angelus-Gebet geläutet wurde, wechselten in den Schachtanlagen Nacht- und Frühschicht, und manche der Bergleute kamen auf einen Dank oder eine Bitte in die Kirche. Heute ist das Welterbe Zollverein die einzige Zeche, die man noch vom Stoppenberg aus sieht, und die Menschen, die durch ihre Tore strömen, sind Kulturtouristen.
Politik-Aufregung wird verstanden aber nicht geteilt
Licht und Schatten des Strukturwandels sind Schwester Joseph Maria bekannt. Jeden Morgen liest sie die WAZ und hängt Berichte von besonderer Bedeutung noch vor der Morgenandacht ans Schwarze Brett. „Berichte über Unglücke oder Betriebsstilllegungen zum Beispiel“, erklärt sie, „wir können dann der Menschen gedenken, die Angehörige oder ihre Arbeit verloren haben, und sie in unsere Fürbitten einschließen.“
Die üblichen Aufregungen im Politik- oder Kulturbetrieb hingegen kann Schwester Joseph Maria vielleicht verstehen, aber nicht teilen. Die Sorge, etwas zu verpassen, der Ehrgeiz, dabei zu sein, mitreden zu können, gar eine Rolle zu spielen, das ist ihr fremd. Sie habe sich nicht für das Klosterleben entschieden, sie sei dazu berufen worden. Und zu einer Berufung gibt es keine Alternative. Sie empfindet ihre Berufung als Gnade und ist dankbar – dafür, dass sie vollkommen mit sich im Reinen ist, dass sie sich in ihrem Glauben fest und geborgen fühlt, und wohl auch dafür, dass ihr weltlicher Kummer weitgehend erspart bleibt.
Eine kommunikative Karmelitin
Es hätte auch anders kommen können. Kurz nach dem Krieg gehörte sie zu den wenigen Frauen in Essen, die den Führerschein und sogar ein eigenes Auto besaßen. „Ich ging gern tanzen und hatte einen großen Freundeskreis“, lächelt Schwester Joseph Maria. Natürlich waren ihre Eltern gläubige Christen, aber dennoch überrascht von dem Weg, den ihre Tochter eingeschlagen hat. „Ja“, sagt sie, „mein Leben hat sich mit dem Eintritt ins Kloster von Grund auf geändert.“ Und: „Nein, ich hatte niemals Zweifel an seiner Richtigkeit.“ Das ist eben der Unterschied zwischen einer Entscheidung und einer Berufung. Eine Entscheidung kann falsch sein.
Schwester Joseph Maria, Mitglied eines so schweigsamen Ordens, ist ein kommunikativer Mensch. Sie hört aufmerksam zu und erzählt gern von den Dingen, die sie beschäftigen, wie die Gründung eines Karmelitinnen-Klosters im baltischen Riga. Und sie tritt ihren Besuchern ohne alle Erwartungen oder Bedingungen entgegen. Nach dem Glauben, der Konfession oder dem Familienstand zu fragen käme ihr nicht in den Sinn.
„Jeder Mensch“, sagt sie, „wer er auch sei und was er getan haben möge, ist ein Liebesgedanke Gottes.“ Vielen Verlassenen und Verzweifelten, die Schwester Joseph Maria ihr Herz ausschütteten, hat diese unbeirrbare Überzeugung schon neue Kraft gegeben.