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Traumatische Erlebnisse wie der Verlust des Partners können erstmals im Leben in die Sucht führen. Rund sieben Prozent der Senioren in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen haben Alkoholprobleme, die Dunkelziffer liegt ungleich höher.
Den Flug nach Irland verpasste Gustav Nitka. „Ich hatte am Abend davor so viel getrunken, dass ich am nächsten Morgen nicht aufstehen konnte.“ Es war nicht der erste Vollrausch des heute 70-Jährigen – doch es sollte einer der letzten sein. „Damals hat meine Schwester mir deutlich gesagt, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will, wenn ich nicht aufhöre zu trinken.“ Die Warnung nahm er ernst.
Zwei Tage nach Gespräch und verpasstem Abflug machte sich der Witwer, der nach dem Verlust der Ehefrau regelmäßig zu trinken begonnen hatte, auf den Weg zu einer Beratungsstelle. „Da hat man mir wenig Hoffnung gemacht, dass ich als Rentner eine stationäre Therapie von der Krankenkasse bewilligt bekomme.“ Die Sozialarbeiter behielten Recht. Doch durch die Abfuhr ließ sich der Witwer nicht aufhalten. Eine Selbsthilfegruppe besuchte er ab Mai 2010, fand durch die Unterstützung von Psychologen und anderen Betroffenen den Weg aus der Sucht, ist heute trocken.
„Damals war Alkoholkonsum auch ein Zeichen von Wohlstand“
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Ein Schicksal, das kein Einzelfall ist. Rund sieben Prozent der Senioren in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen haben Alkoholprobleme, die Dunkelziffer liegt ungleich höher. Zum einen, so sagt der Leiter der Klinik für Suchtmedizin am LVR-Klinikum Professor Norbert Scherbaum, handle es sich um die Wirtschaftswundergeneration. „Damals war Alkoholkonsum auch ein Zeichen von Wohlstand.“ Die Tabugrenze liegt niedrig – und mit dem Konsum steigt auch das Risiko der Abhängigkeit. „Dann gibt es aber auch die Gruppe der älteren Menschen, die nach einem schweren Verlust beginnen zu trinken.“ Wo nun die Grenze liegt zwischen dem „Bierchen“ nach Feierabend und klassischem Suchtverhalten? „Da muss man genau hinschauen“, sagt Arnulf Vosshagen, Psychologe im Kamillushaus. „Wenn man regelmäßig trinkt und über den Beginn und den Verlauf des Trinkens keine Kontrolle mehr hat, der Alkohol das Leben dominiert und man ständig bemüht ist, Reserven in Reichweite zu haben“, spreche man von Sucht.
Und eben diese Sucht wird verstärkt zum Problem in Senioren-Einrichtungen. „Man kann sich vorstellen, dass eine Pflegekraft mit einem betrunkenen Bewohner einen viel höheren Aufwand hat“, sagt Michael Mannebach, Leiter der gerontopsychiatrischen Einrichtung St. Augustinus. Die Nähe von Suchtklinik und Pflegeheim führte zur Kooperation. „Das Personal im Kamillushaus wird dadurch sensibler im Umgang mit älteren Suchtpatienten“, sagt Vosshagen, im Gegenzug lernt Mannebachs Personal, Strategien im Umgang mit Abhängigen.
Dabei ist - auch im Alter - die Sucht nicht ausweglos. Gerade wenn ein Mensch nach einem traumatischen Erlebnis zur Flasche greift und nicht schon über Jahrzehnte getrunken hat, griffen Therapien gut, sagt Scherbaum. Dann könne man zurückschauen auf ein langes Leben, in dem man Strategien für den Umgang mit Stress, mit Konflikten und Trauer entwickelt hat, auf die man sich besinnen, auf die man aufbauen kann. „Schwierig wird es, wenn Kinder bereits in der zweiten Generation trinken und von ihren Eltern gelernt haben, dass Alkohol etwas Normales ist, um Probleme zu lösen“, sagt Vosshagen. Mit diesen Patienten wiederum erarbeitet er in der stationären Therapie Lösungsansätze. Etwa bei Wut nicht zu trinken, sondern zum Joggen in den Wald zu gehen und so den Stress abzubauen statt die Probleme zu ertränken.
In Rente „erst richtig angefangen zu trinken“
Ein Weg, den auch eine 74-jährige Seniorin ging. Über lange Zeit pflegte sie den Mann, trank erst wenig, dann zunehmend. Die Tochter verbot der Enkelin, die Oma zu besuchen, „sie sollte mich nicht betrunken sehen“. Sechs Monate verbrachte die Frau im Kamillushaus, lernte Lebensqualität neu zu definieren, sich wieder wichtig zu nehmen, pfleglich mit sich umzugehen. Drei Jahre ist dieser Klinikaufenthalt her, „seitdem war ich auch nicht mehr in Versuchung etwas zu trinken.“
Da pflichtet ihr Gustav Nitka bei – und auch Bernd Krug, für den Alkohol über Jahre zum Leben gehörte. Weinbrandbohnen genoss er, da war er erst 14. „Das war mein erster Kontakt mit Alkohol, da merkte ich, das schmeckt mir.“ Kneipenbesuche mit Freunden, Familienfeste Geschäftsabschlüsse, Erinnerungen, die sich in einem gleichen: Immer standen Flaschen auf dem Tisch. Dann ging Krug in Rente. „Da habe ich erst richtig angefangen zu trinken.“ Wenig Tagesstruktur, viel Zeit für die Sucht, „ich bin immer träger und müder geworden.“ Die Wende kam mit dem Ehrenamt. „Ich wollte zur Verkehrswacht“ – doch die wollte ihn nicht, zumindest nicht betrunken. „Aber man hat sich sehr um mich bemüht, mir ins Gewissen geredet.“ Krug ging in Therapie. Eine weiter Weg – und noch eine Erfolgsgeschichte, die seit Jahren währt.