Essen. . Rund 17.000 Mal klingelte 2010 der Apparat bei der evangelischen Telefonseelsorge. Oft geht es um psychische Krankheiten. Für ihre Aufgabe lernen die ehrenamtlichen Mitarbeiter, wie sie ein Lächeln oder eine Umarmung mit Sprache ersetzen.
Ein Scherzanruf war sein erster Kontakt zur Telefonseelsorge. Damals war er zwölf Jahre alt. Heute ist er 54 und sitzt am anderen Ende der Leitung. Er, das ist ein Selbstständiger aus Essen, der sich die Menschen bei der Telefonsorge früher als herzensgute Mütterchen vorgestellt hat. Und sich getäuscht hat, wie er heute sagt.
47 Mal in 24 Stunden
Wie die anderen 64 Ehrenamtlichen bleibt er anonym. Denn es gebe Menschen, die klammern, die mitunter an der Haustür klingeln. Andererseits solle niemand abgeschreckt werden, weil er weiß, dass sein Nachbar den Hörer abheben könnte. Am Apparat in dem Zimmer mit Bett, Sessel und Schreibtisch, irgendwo in der Stadtmitte, warten abwechselnd Heilpraktiker, Werkstattleiter, Musiklehrerin, Hausmann oder Rechtsanwältin auf die Anrufe. Rund 17 000 Mal klingelte es im vergangenen Jahr. Im Schnitt 47 Mal in 24 Stunden. Fast 80 Prozent der Anrufer nannten ihren Namen nicht. Ihre Themen sind oft psychische Krankheiten (ca. 22 Prozent) oder die Familie (2303 Anrufe). Regelmäßig geht es um den Partner (1663 Anrufe) und Sexualität (1126). Bei Kindern um Mobbing oder Schule.
Was sich im Laufe der Jahre seit 1987 verändert hat, seitdem Pfarrer Werner Korsten die telefonische Seelsorge leitet: Die Menschen berichten eher von diffusen Gefühlszuständen. „Ich bin arm“, sagt keiner. Aber dann stelle sich im Gespräch heraus, dass es Probleme in der Familie gibt, seitdem sie mit Arbeitslosigkeit konfrontiert ist.
Suche nach Ehrenamtlichen ist schwierig
Was die finanzielle Situation der Seelsorge angeht, so gab sie 2010 rund 270 000 Euro für Aus- und Fortbildung, Personalkosten für die Hauptamtlichen, Aufwendungen für Ehrenamtliche, Miete und Heizung aus. Demgegenüber stehen Einnahmen in gleicher Höhe unter anderem aus Kirchensteuermitteln (242 500 Euro) und Spenden. Telefonkosten in Höhe von drei Millionen Euro übernehme die Telekom, sagt Korsten. Sorgen plagen ihn vielmehr bei der Suche nach Ehrenamtlichen. Zwar bleiben viele lange dabei, aber neue zu finden, sei schwieriger geworden. Ein Jahr lang werden sie ausgebildet, dann verpflichten sie sich für zwei Jahre und monatlich 15 Stunden Einsatz. Nachtschichten inklusive. Für die 120 Dienste im Monat sind sie eher knapp besetzt, sagt Korsten. Rund um die Uhr ist einer da. Telefoniert der, werden Anrufe an die katholische Seelsorge umgeleitet, mit der sie zusammenarbeiten.
Sprache als Ersatz für Lächeln oder Umarmung
Anfangs habe der 54-Jährige manchmal gedacht, dass da vielleicht jemand durchkommen will, der auf der Fensterbank bereit zum Sprung steht, während er sich Alltagsprobleme anhört. Von Werner Korsten hat er gelernt: Leid ist nicht vergleichbar. Für manche Anrufer sind die Mitarbeiter der Seelsorge seit Jahren Lebensbegleiter im Alltag.
Für ihre Aufgabe lernen die Ehrenamtlichen, wie sie ein Lächeln oder eine Umarmung mit Sprache ersetzen. Fehlen die Worte bei schlimmen Schicksalen dennoch, ist das in Ordnung, weiß eine 32-jährigen Hotelfachfrau und BWL-Studentin. Sie erfuhr von einem Anrufer, dass er seine Familie verloren hatte. Und sie sagte: „Ich weiß nicht weiter.“ Müssen die Helfer auch nicht. Rat und Tipps zu geben, ist nicht ihre Aufgabe, sondern zuzuhören. Dabei gilt, Schweigen aushalten. „Das Leid anderer ertragen - viel mehr tun wir nicht“, sagt Korsten.
Was sie nicht hinnehmen: Gewaltfantasien. Dann brechen sie das Gespräch freundlich, aber rigoros ab. Sie seien keine Sexnummer. Und bei Scherzanrufern (2252 im Jahr 2010)? „Ich gebe ihnen das Gefühl: Ich nehme dich ernst“, sagt der 54-Jährige. Gerate derjenige irgendwann tatsächlich in Bedrängnis, wüsste er so, wo er anrufen könne.