Essen.
Kein anderes Viertel entwickelt sich so gut wie Rüttenscheid, doch ausgerechnet der Bezirksbürgermeister führt einen bizarren Feldzug gegen die Außengastronomie. Warum ist schleierhaft.
Einige kleine Tische stehen jetzt bei schönem Wetter vor der Siechenhauskapelle in Rüttenscheid, dazu ein paar Kissen, damit die Gäste keinen kalten Hintern bekommen, wenn sie auf dem Mäuerchen sitzen. Nichts Besonderes könnte man meinen. Rüttenscheid ist attraktiv, auch und gerade wegen der vielen Open-Air-Cafés, die im Sommerhalbjahr für Flair auf den Straßen sorgen. Sehen und gesehen werden - so lieben es die Menschen, die im Viertel leben oder hier zu Besuch sind. Doch so unglaublich es klingt: Die kaum kniehohen Tische des „Café Glanzstück“ könnten den Dauerkampf um die Genehmigung von Außengastronomien in Rüttenscheid in eine neue Eskalation treiben. „Ich werde alles tun, damit diese Tische wieder verschwinden, verlassen Sie sich drauf“, droht Bezirksbürgermeister Michael Th. Roy im Gespräch mit der WAZ. Die Stadtverwaltung habe kein Recht gehabe, der Café-Betreiberin das Okay zu geben.
Harte Worte im schönen Rüttenscheid. Warum ist für Roy ein Problem, was offensichtlich die meisten genießen, andere zumindest tolerieren? Um diese Absurdität zu verstehen, muss man etwas ausholen. Denn seit Jahren schon führt der Sozialdemokrat und Vorsitzende der örtlichen Bezirksvertretung (BV) II einen erbitterten Feldzug gegen jedes Stühlchen, das in Rüttenscheid auf die Straße gestellt werden soll. Im Stadtteil-Parlament verschaffen ihm seine eigene SPD, die Linke und die Grünen eine Mehrheit - ausgerechnet die Grünen, die sich sonst gern als metropolitane Großstadtpartei inszenieren. „Rüttenscheid geht kaputt wegen der vielen Straßencafés“, sagt Roy. „Es ist zu eng, viel zu eng.“ Dass die Stadtverwaltung, wie sie sagt, schon von Gesetz wegen auf genügend breite Gehweg-Flächen achtet, bestreitet Roy.
Die Sprache eines Erziehers
Was ihn konkret stört, bleibt schleierhaft. Stolpern Passanten über Tische und Stühle? „Nein, bisher ist nichts passiert“, räumt Roy ein. Aber das könne sich jederzeit ändern. Generell gelte: „Einzelhandel und Gastronomie werden in Rüttenscheid zu wichtig genommen, ich hingegen vertrete die Interessen der schweigenden Mehrheit“. Schwarz-Weiß-Denken, das konstruiert wirkt. Denn sitzen nicht auch viele Rüttenscheider in den Cafés oder genießen die Geschäftevielfalt? „Das ist so, aber die Menschen wollen auch CO 2 sparen und sitzen trotzdem im Billigflieger“, zieht Roy schräge Vergleiche. Hier blitzt die Sprache eines Erziehers auf, der Rüttenscheid als Missionsfeld sieht.
Nun wäre die Anti-Gastro-Obsession eines Michael Th. Roy keine Zeile wert, wenn der Mann nicht Bezirksbürgermeister wäre. Zu seinem Leidwesen ist das zwar keine sehr machtvolle Position, was man schon daran sieht, dass die Stadtverwaltung ihn meist umgeht und Genehmigungen nach Recht und Gesetz erteilt. Doch Roy („Ich bin demokratisch legitimiert“) kann sein Amt immerhin nutzen, „um bei jeder sich bietenden Gelegenheit Sand ins Getriebe zu streuen“, wie es seine CDU-Gegenspielerin in der Bezirksvertretung, Heidemarie von Münchhausen, formuliert. Tatsächlich haben das schon viele zu spüren bekommen, die im Stadtteil investieren oder etwas bewegen wollten.
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Roys eigentlicher Widerpart ist Rolf Krane, Vorsitzender der sehr rührigen und erfolgreichen Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR). Krane vermutet bei Roy eine tiefe ideologische Abneigung gegen alles, was im weitesten Sinn kommerzielle Geschäftstätigkeit ist - und könnte damit richtig liegen. Indiz wäre etwa jene Episode um Rüttenscheider Stadtstreicher, über die man manchmal wirklich stolpern könnte, wenn sie bettelnd an besonders knapp bemessenen Bürgersteig-Abschnitten sitzen. Roy, dem es sonst überall „zu eng“ ist, kann es in diesem Fall gar nicht eng genug sein. So sähen Rüttenscheider doch wenigstens mal „die Schattenseiten der Gesellschaft“, beschied er Krane nach dessen Angaben.
Lautstarkes Streitgespräch bei „Backbord“
Wenig überraschend: Das Verhältnis unter den Stadtteilpolitikern ist total zerrüttet. Bei der Neueinweihung des Öko-Bäckers „Backbord“ auf der Rüttenscheider Straße kam es nach Auskunft von peinlich berührten Teilnehmern zu einem lautstarken Streit zwischen Roy und Frau von Münchhausen. Anlass war, wie könnte es anders sein, die schmale Tisch-Garnitur, die Backbord vor die Tür stellen will, um dort zu servieren. Roy wollte auch hier verhindern - erneut vergeblich.
Mitunter geht es noch piefiger zu in der BV. Als eine Schneiderin einen Blumenkasten auf die Straße stellen wollte, um das Umfeld ihres Ladens zu verschönern, soll das Roy und dem SPD-Fraktionschef Peter Lankes eine 20-minütige hitzige Diskussion wert gewesen sein. Der Evag wurde es zunächst künstlich schwer gemacht, eine gastronomische Nachnutzung für ihr Service-Häuschen am Rüttenscheider Stern zu realisieren. Und dass für die Sicherheitsprobleme im Christinenpark die dort ansässigen Biergärten verantwortlich sein sollen, war eine besonders steile These. Selbstredend sind auch diese privaten Gastro-Aktivitäten, durch die die früher vermüllte Grünfläche erst ihren Schrecken verlor, dem SPD-Duo ein Dorn im Auge.
Berüchtigt bei den Beamten der Stadtverwaltung
Im Rathaus herrscht parteiübergreifendes Kopfschütteln über Roys Regiment. Unter den Fachbeamten, die manchmal zum Vortrag kommen müssen, ist die BV wegen des durch Roy geprägten, ruppigen Klimas berüchtigt. Fachlichen Rat verschmäht der Bezirksbürgermeister ohnehin gern. Im aktuellen Fall der Siechenhauskapelle hatten das Denkmalamt, die Polizei, das Stadtamt 39 (Verkehrsmanagement) und selbst die Kirche als Grundstückseigentümer keine Einwände gegen die Tische. „Wir mussten das schon deshalb für zunächst ein Jahr genehmigen, weil wir dem einen nicht verbieten können, was wir anderen gestattet haben“, sagt Karl-Heinz Webels vom Stadtamt 39. Und: „Es geht auch darum, juristischen Schaden von der Stadt abzuwenden.“
Roy und die seinen in der BV sehen das anders. Die „Sichtbeziehungen“ zur Kapelle seien gestört, „Sichtbeziehungen“ wurden auch beim Evag-Häuschen am Stern ins Feld geführt. Das hat Methode. Seit Roy in der Gemeindeordnung gelesen hat, dass „Gestaltungsfragen Sache der Bezirksvertretung“ sind, hofft er, mit diesem Hebel Dinge zu verhindern.
„Ich bin nicht Bezirksbürgermeister geworden, um frisch und euphorisch nach vorne zu gehen“, umschreibt Roy sein Amtsverständnis. Wohl wahr. Formulierungen wie die, er werde nicht länger dulden, dass „irgendwelche Hocker vor irgendwelche Fenster gestellt werden“ lassen eher auf obsessive Lust am Bremsen gepaart mit einer seltsamen Verachtung für das Rüttenscheid Lebensgefühl schließen - nicht die beste Voraussetzung für ein solches Amt. Der Rüttenscheider Tische-Krieg dürfte folglich munter weitergehen.