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Im Jahr 2010 gab es viele dramatische Raub-Delikte. Die Opfer: Senioren. Auch die 88-jährige Rosemarie Langen wurde vor sieben Jahren am helllichten Tag im Moltkeviertel überfallen. Der Fall beschäftigt sie bis heute.
Vielleicht wäre alles ganz anders gewesen, wenn Rosemarie Langen nicht so großzügig wäre. Großzügigkeit ist eine der Stärken der 88-jährigen Rentnerin. Diese Stärke stellte sich in einem kurzen Moment als Schwäche heraus. Deshalb ist sie überfallen worden. Am helllichten Tag und in einer der besten Gegenden der Stadt, an der Schinkelstraße im Moltkeviertel. Am nächsten Tag stand eine Meldung in der Zeitung: „Brutaler Handtaschenraub“. Frau Langen hat längst keine Schmerzen mehr deswegen. Doch die Sache beschäftigt sie bis heute. Manchmal ärgert sie sich. Wäre sie nur nicht so großzügig gewesen damals. Der Fall ist sieben Jahre her.
Seitdem hat es immer wieder solche Meldungen in der Zeitung gegeben. Im letzten Jahr, 2010, besonders viele. 12. Januar: „Brutaler Überfall auf einen Rentner.“ 25. Mai: „Räuber überfiel 86-Jährige auf dem Friedhof.“ 27. Mai: „Raubopfer: Seniorin (88) in Lebensgefahr.“ Und dann, im August, starb Rentnerin Anneliese R. (85) an den Folgen eines Überfalls in Stoppenberg. Die Täter, 13 und 15 Jahre alt – einer hatte die Dame geschubst, der andere ihr den Krückstock weggetreten. Frau R. war schwer gestürzt, die Täter hatten die Handtasche weggenommen und waren weg. Beute: 40 Euro. Zehn Tage später war Frau R. tot. Hirnblutung.
Das Entsetzen war groß in der Stadt; der Seniorenbeirat lud die Polizei in eine seiner Sitzungen ein. Das Thema beschäftigt seitdem manche Gremien bei Polizei und Stadtverwaltung. Man müht sich um größtmögliche Sachlichkeit. Statistisch gesehen, ist die Gefahr, Opfer eines Raubüberfalls zu werden, für Jugendliche ungleich größer.
Dieb wollte dreifach abkassieren
Schon möglich. Doch Frau Langen wurde im Sommer 2003 die Brieftasche geklaut, als sie bei ihrem Stiefbruder in Bonn zu Besuch war. Es muss während der Zugfahrt passiert sein. „Und dann, am nächsten Tag“, erzählt die Seniorin, „da steht plötzlich ein junger, ordentlich gekleideter Mann vor der Tür und bringt mir die Brieftasche.“ Er habe sie gefunden, sagt er. Geld war nicht mehr drin, angeblich. Papiere auch nicht. Rosemarie Langen, die großzügige Rentnerin, gibt dem Mann Finderlohn. Das ist ein Fehler. Denn der Mann ist kein ehrlicher Finder, sondern es ist genau der drogensüchtige Dieb, der ihr die Brieftasche zuvor geklaut hat. Und jetzt doppelt Kasse machen will. Doppelt? Nein – dreifach.
Am nächsten Tag klingelt er wieder an ihrem Haus in der Robert-Schmidt-Straße. Und tischt ihr irgendeine Geschichte auf, dass er Geld braucht für einen beruflichen Neuanfang. Frau Langen wird misstrauisch, doch zückt erneut die Börse, widerwillig. Sie ahnt, dass sie jetzt ein Problem hat. Am nächsten Tag steht der Mann wieder da, verstellt ihr den Weg, als sie sich zu einem Arztbesuch aufmacht. „Ich wünsche nicht, dass Sie hier sind“, ruft Frau Langen und drängt ihn weg. „Ich krieg’ jetzt Geld“, schreit er, folgt ihr. „Nee, überhaupt nicht“, sagt sie im Weitergehen. Da holt er sie ein, schlägt ihr ins Gesicht, reißt ihr die Tasche weg. Rosemarie Langen fällt auf den Rücken, blutet aus Nase und Mund. „Dabei“, sagt sie heute, „hätt’ ich ihn gern da hingetreten, wo es einem Mann am meisten wehtut. Aber ich kriegte die Beine ja nicht so hoch.“
Sie ist das, was man „resolut“ nennt. Hat den Krieg erlebt und Flucht, drei Kinder großgezogen und hatte immer mit Menschen zu tun, arbeitete Jahrzehnte im „Pelzhaus Plöger“ im Erdgeschoss des Hotels Handelshof. Der Täter wird später ermittelt und verhaftet, Frau Langen sagt als Zeugin aus vor dem Amtsgericht. Der Mann bekommt zwei Jahre ohne Bewährung. Er sitzt bis heute in Haft, weil es immer wieder Versuche gab, eine Therapie anzufangen. Frau Langen merkt, dass sie seitdem ängstlich geworden ist. Dunkelheit macht ihr zu schaffen. Friedhofsbesuche, allein? Heute undenkbar. Früher waren sie normal. Ihre Handtasche fand sie später wieder. Sie sah einen Hund damit spielen, irgendwo im Moltkeviertel. Das Stück war angeknabbert und schmutzig. Frau Langen, die großzügige Rentnerin, ließ ihn. Sollte doch wenigstens er was davon haben.