Essen.

Die Zahl der Geburten in Essen sinkt - dem gegenüber wächst die Zahl der in Armut lebenden Kinder. Allein 1000 Fälle von Inobhutnahme nach Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung in Familien gab es im vergangenen Jahr.

„Grundfeindlichkeit gegen Kinder“, attestiert Ulrich Spie, Vize-Vorstand des Kinderschutzbundes, der Stadtgesellschaft. „Es ist nicht so, dass wir eine grundlegende Abneigung gegen Kinder haben“, betont er, „aber wir schenken ihnen zu wenig Aufmerksamkeit und Fürsorge. Wir verlangen viel von ihnen und geben wenig.“

Nun ist Ulrich Spie kein „Kleinreder“; dass Essen eine kinderfreundliche Stadt ist, attestiert er der Kommune sehr wohl. Nur würden eben nicht alle Kinder erreicht. Auf der einen Seite viele Spielplätze und engagierte, ehrenamtliche Spielplatzpaten. Auf der anderen Seite schließende Jugendhäuser und magere Mittel in der Sozialarbeit. Hier Eltern, die mit dem Nachwuchs-Kinder-Yoga und frühkindliche Bildungsangebote wahrnehmen - dort Familien im Hilfebezug, die nicht wissen, wie sie das Geld für den Sportverein aufbringen sollen.

Rund 500 Euro, so hat es der Kinderschutzbund Essen errechnet, brauche eine Familie pro Kind im Monat für Bildung, Kleidung, gesunde Ernährung und soziale Teilhabe, was im Hilfebezug, bei Geringverdienern nicht der Fall ist. Betrachte man aber den demografischen Wandel, könne sich die Stadt nicht leisten, auch nur ein einziges Kind durch das soziale Raster fallen zu lassen. „Ein Euro, den man in frühkindliche Bildung investiert, spart sieben Euro Folgekosten. Dabei sind wir eins der reichsten Länder in Europa. Selbst in den ärmsten Familien und Kommunen finden sich die Mittel, das, was wichtig erscheint, zu finanzieren.“ Nur liege die Priorität nicht immer bei der nachrückenden Generation.

Die Bedeutung kindlicher Bildungsangebote

Als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur späteren Mitgestaltung des politischen Systems, nennt Spie die Bildung. Doch da hapere es an vielen Stellen: „Wir definieren einen Regelanspruch auf Kindergartenplätze und erfüllen ihn nicht.“ Wenn man die Stadt frage, werde zwar betont, der Anspruch werde erfüllt. „Aber wir haben rund 100 Eltern verzeichnet, die dringend einen Platz suchen.“ Zu dürftig sind in vielen Einrichtungen die Betreuungszeiten, zu weit sind häufig die Anfahrtswege, um Beruf und Kindergartenbesuch vereinbaren zu können.

Auch interessant

Von DerWesten

Dabei nehme die Bedeutung kindlicher Bildungsangebote weiter zu. „Einen Großteil der Bildung bekommen wir in den ersten sechs Lebensjahren mit. Da entwickelt sich im Gehirn sehr viel.“ Früher hätten Großfamilien einen entsprechenden Rahmen geboten; viele Kinder, viele Bezugspersonen. „Ein-Kind-Familien sind nicht das optimale Modell.“

Frühkindliche Entwicklung, die eine Basis schafft, Wissen aufzunehmen, Gesundheit, auch durch ein Augenmerk auf Ernährung, und Sprache, die Zugang zu Wissen und sozialer Kommunikation ermögliche, nennt Ulrich Spie als die drei wichtigsten Säulen in der Entwicklung von Kindern.

Einrichtungen, die unter Berücksichtigung dieser Säulen arbeiten, unterhält der Kinderschutzbund im gesamten Stadtgebiet. Rund 500 Kinder in Essen erreiche man über ein spendenfinanziertes Projekt, das in vier Einrichtungen Hausaufgabenhilfe und Betreuung bietet. Weitere Familien spreche man an in Sprachförderprojekten.

Gutes Netzwerk in der Stadt

„Wenn man seit 20 oder 30 Jahren in Deutschland lebt und die Mutter immer noch nicht Deutsch spricht, ist das ein Problem. Der Schlüssel ist das Kind, Wenn wir da einen Zugang bekommen, sind wir eine Generation weiter.“ Auch mit Familien, die sich in zweiter, in dritter Generation im Hilfebezug befinden, arbeitet der Kinderschutzbund. Wichtig sei, die Eltern nicht auszugrenzen, sie mit ins Boot zu holen.

Und nicht zuletzt betreibt der Kinderschutzbund Betreuungseinrichtungen für Kinder ab vier Monaten, in denen bilingual gearbeitet wird. Etwa in der Kita Grugapark werden in drei Gruppen 50 Kinder betreut. Doch auch die beste Betreuung, sagt Spie, nütze nichts, wenn man die Familien nicht umfassend stärke. „Kinder brauchen Schutz.“Nähmen aber die Sorgen um Geld, die emotionalen Nöte z.B. nach einer Scheidung in den Familien zu, komme es häufig zum Verlust der Schutzfunktion durch die Eltern. Auch ein Effekt, den Kinder erlernen.

So gibt es viele gute Ansätze in der Bildungs- und Erziehungsarbeit, ein gutes Netzwerk in der Stadt, das man zu Rate ziehen kann. Und dennoch, sagt Spie, ist der Weltkindertag wichtig, um sich dessen bewusst zu werden. „Eigentlich“, sagt er, „müsste jeden Tag Weltkindertag sein.“