Essen. Nico Schiller gehört zu den bundesbesten Auszubildenden 2023. Sein Weg zeigt: Für einen beruflichen Neustart ist es nie zu spät.

Die Urkunde liegt noch in der Schublade und muss noch gerahmt werden. Aber auch der kleine Pokal im Regal erinnert Nico Schiller aus Essen an einen ganz besonderen Auftritt vor wenigen Tagen. Da stand er im grauen Anzug, mit weißem Einstecktuch, weißem Hemd und schwarzer Fliege im Estrel Congress Center in Essen auf der Bühne; zusammen mit 219 jungen Männern und Frauen aus ganz Deutschland. Sie hatten in ihren Abschlussprüfungen bei den Industrie- und Handelskammern in diesem Jahr die höchsten Punktzahlen erreicht und sich damit unter knapp 300.000 Prüfungsteilnehmern durchgesetzt.

Nico Schiller hat eine Ausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen absolviert. Von 100 möglichen Punkten hat er in der mündlichen und schriftlichen Prüfung 99 geschafft. Den Platz Bundesbester musste er sich damit zwar mit einem Bremer Azubi teilen. Die Freude über den Erfolg schmälerte das aber keineswegs, wie er sagt.

Kliniken Essen Mitte mit drastischem Bewerberrückgang

Sein Arbeitgeber sind die evangelischen Kliniken Essen Mitte, KEM. Dort ist man zwar durchaus erfolgsverwöhnt, wie die IHK-Besten-Urkunden im Flur der Personalabteilung zeigen. „Aber einen Bundesbesten haben wir auch nicht alle Tage“, sagt Ausbildungsleiterin Bettina Engels. Im Gegenteil: Auch die KEM spüren, dass sich insgesamt weniger, und dazu weniger geeignete junge Menschen bewerben. Vor Corona, so berichtet Bettina Engels, landeten regelmäßig 90 und mehr Bewerbungen für die kaufmännischen Ausbildungsplätze bei ihr auf dem Tisch. Vergangenes Jahr waren es 20, bislang sind es im laufenden Bewerbungsverfahren erst sieben. „Warum das so ist, wissen wir nicht“, sagt sie.

Franz Roggemann (l.) von der IHK Essen begleitete die beiden bundesbesten Azubis aus der Region nach Berlin: Nico Schiller (Mitte) und Justin Weber (rechts). 
Franz Roggemann (l.) von der IHK Essen begleitete die beiden bundesbesten Azubis aus der Region nach Berlin: Nico Schiller (Mitte) und Justin Weber (rechts).  © WAZ | DIHK

Auch bei den schriftlichen Einstellungstests schneiden die jungen Leute schlechter ab als noch vor ein paar Jahren. Die Fragen sind seit 2011 unverändert geblieben. Früher hatten Bewerber nur eine Chance, wenn sie mindestens 75 Prozent davon richtig beantworten konnten. „Heute“, meint Bettina Engels, „bin ich froh, wenn es 50 Prozent sind.“

Azubi: Druck war gleichzeitig Motivation

Nico Schiller hat den Test freilich geschafft. Und auch in der Berufsschule kristallisierte sich schnell heraus, dass er bei den Klausuren regelmäßig zu den Klassenbesten gehörte. Dabei hatte er selbst einen eher mittelmäßigen Abschluss am Gymnasium hingelegt. Noch dazu lag die Schulzeit schon über zehn Jahre zurück. Als Nico Schiller die Ausbildung bei den KEM begann, war er schon 32 Jahre alt. Sich nach so langer Zeit wieder auf die Schulbank zu setzen, zumal in einer Klasse, wo viele gerade frisch aus der Schule kamen, das setzte ihn selbst unter einen gehörigen Druck, räumt er ein. „Druck war eigentlich immer da. Aber das war für mich auch Motivation.“

Der heute 35-Jährige hatte nach Schule und Zivildienst Physiotherapeut gelernt und in dem Beruf einige Jahre gearbeitet. Doch neben Abrechnungsaufgaben und Dokumentationspflichten sei zu wenig Zeit geblieben, mit den Patienten zu arbeiten. „Ich konnte mir nicht vorstellen, das noch bis zur Rente zu machen“, sagt er. Da er aber im Gesundheitswesen bleiben wollte, fiel ihm bei Internetrecherchen der Kaufmannsberuf ins Auge. „Mit Zahlen konnte ich eigentlich schon immer gut umgehen, auch das Analytische liegt mir“, meint Nico Schiller.

Den Unterricht am Gymnasium früher jedoch fand er jedoch viel zu allgemein. In der Berufsschule dagegen sei er viel stärker darauf ausgerichtet gewesen, was man wirklich brauche. Ausbildungsleiterin Bettina Engels schaut bei den Bewerbern im Übrigen nicht streng auf die Schulnoten. Ein gewisses Matheverständnis im Kaufmännischen sei zwar wichtig. „Ob jemand eine Kurvendiskussion beherrscht, eher weniger. Den Dreisatz zu beherrschen wäre aber schon gut.“

Essen hat einen weiteren bundesbesten Azubi

Nico Schiller arbeitet nun seit fast einem Jahr in der Personalabteilung der KEM. Seine Ausbildung konnte er wegen der guten Leistungen um ein halbes Jahr verkürzen. Heute ist er fürs Personalcontrolling und die Lohnabrechnung mit zuständig - weitere berufliche Schritte schließt er nicht aus.

Der Essener ist ein gutes Beispiel dafür, dass es im Leben für eine zweite, noch dazu erfolgreiche Karriere nicht zu spät ist. Was kann er jungen Leuten, die ähnlich durchstarten wollen, mit auf den Weg geben? „Ich finde es wirklich schwierig, sich mit 18 Jahren für einen Beruf zu entscheiden. Wichtig ist, dass man auf sein Herz hört. Man sollte aber auch keine Angst vor Veränderung haben, wenn man merkt, dass es nicht der richtige Beruf ist. In der Ausbildung selbst gehören natürlich Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Disziplin und Respekt dazu. Und man sollte immer offen für Neues sein, Neugier haben und vor allem Fragen stellen.“

Neben Nico Schiller hat es ein weiterer Essener Azubi dieses Jahr unter die Bundesbesten geschafft: Justin Weber hat bei der Finca Essen Gastro GmbH gelernt und ist Deutschlands bester Fachmann für Systemgastronomie geworden.

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