Essen-Holsterhausen. 50 Jahre Gehörlosen-Treffpunkt in Holsterhausen. Pfarrer Volker Emler leitet ihn seit rund drei Jahrzehnten. Warum seine Arbeit so wichtig ist.
Manche Termine sind auch für Journalisten etwas Besonderes: Mein Besuch im „Treffpunkt der Gehörlosen Essen“, der vor 50 Jahren gegründet wurde, gehört zweifelsohne dazu. Warum? Weil ich selbst eine starke Hörbehinderung habe und nun mit Menschen reden möchte, die ihr Leben – oft schon von Geburt an – in absoluter Stille verbringen. Wie also kommunizieren diese Menschen, wie nehmen sie am Leben teil und mit welchen Restriktionen und vielleicht auch Vorurteilen haben sie zu kämpfen?
Der Empfang im Haus an der Henckelstraße in Essen-Holsterhausen ist herzlich. Antje Emlers Lächeln vermittelt mir gleich ein Gefühl des Willkommenseins. Ihr Mann, Pfarrer Volker Emler von der Gehörlosenseelsorge, leitet seit 29 Jahren den Treffpunkt. Nun reicht er mir die Hand, und irgendwie bedauere ich, dass seine etwa 30 Schützlinge, die hier regelmäßig immer dienstags zusammenkommen, seine angenehm sonore Stimme nicht hören können.
Pfarrer Emler ist auch für Duisburg, Oberhausen und Mülheim/Ruhr zuständig
Pfarrer Emler (64) ist zwar für die Evangelische Gehörlosenseelsorge Essen tätig, doch sein Refugium reicht deutlich weiter. „Ich bin auch für Duisburg, Oberhausen und Mülheim an der Ruhr zuständig.“ Im nächsten Jahr geht Emler in Ruhestand, „aber meine Pfarrstelle und der Treffpunkt bleiben erhalten. Das ist die Hauptsache.“ Seine Erleichterung ist spürbar.
Der Treffpunkt der Gehörlosen war in den Anfängen als „Altenclub“ für gehörlose Menschen aus Essen und Umgebung gedacht, erklärt Emler. Unterhaltung, Geselligkeit und Weiterbildung standen und stehen bis heute im Mittelpunkt. Hier erhalten die Menschen wertvolle Informationen im persönlichen Austausch und durch Vorträge. Die Beratungsstelle der Polizei, die Feuerwehr, die Bahnhofsmission, die Entsorgungsbetriebe, ein Finanzfachmann zur Einkommenssteuer für Rentner und eine Rechtsanwältin, die zum Thema Testament und Erbrecht sprach, zählten zuletzt zu den Referenten.
Der Treffpunkt ist beliebt, „doch die Corona-Zeit war für uns eine schwierige“, gibt Pfarrer Emler zu. Vor Beginn der Pandemie seien auch jüngere, noch berufstätige Gehörlose vorbeigekommen. Heute sind es in erster Linie Senioren wie Arthur Kieser (88), der in der Essener City wohnt und schon seit Gründung des Treffs dabei ist. Früher half er beim Getränkeverkauf oder beim Grillen. Diesen Job hat mittlerweile Rainer Marmann (73), ein ehemaliger Grafiker aus Essen-Überruhr, übernommen. Dafür soll er später ein kleines Präsent von Pfarrer Emler erhalten, der mit roter Weihnachtsmütze den Weihnachtsmann spielt.
Zur Weihnachtsfeier ist es besonders lebhaft im Haus. Antje Emler hat alle Hände voll zu tun. Kaffee und Stollen gibt es für alle am Nachmittag. Später dann den Weihnachtsklassiker Würstchen und Frikadellen mit Kartoffelsalat. Aber: „Wir hatten mit 20 Gästen zum Essen kalkuliert. Doch es haben sich noch einige weitere Besucher kurzfristig angemeldet. Daher gibt es jetzt Würstchen oder Frikadelle zum Salat“, schmunzelt sie. „Aber wir werden schon alle satt werden.“ Doch erst einmal wird ausgiebig geplaudert. Interessanterweise sitzen die Damen für sich. Was jedoch nichts mit Berührungsängsten zu tun hat, wie Antje Emler betont. „Die Männer haben eben andere Themen, das ist alles.“
„Es ist immer einfacher, sich als Gehörloser mit Betroffenen statt mit Normalhörenden auszutauschen“, erklärt Pfarrer Emler die Notwendigkeit der Treffen. Denn niemand kenne die alltäglichen Probleme der Gehörlosen besser als sie selbst. Aus Erfahrung weiß er, dass Normalhörende im Umgang mit Gehörlosen oft unsicher sind. Nicht hören wird oft mit „nicht begreifen“ gleichgesetzt. Jahrhunderte lang galten gehörlose Menschen daher als geistig zurückgeblieben – was in erster Linie auf Verständigungsschwierigkeiten zurück zu führen ist.
Während sich Gehörlose untereinander problemlos mittels Gebärdensprache verständigen, ist die Unterhaltung mit Hörenden in der Regel für beide Seiten anstrengend. Zwar sind zumindest einige Gehörlose in der Lage, verständlich zu sprechen, doch zumeist fällt es ihnen schwer, Hörende zu verstehen. Trotz Lippenlesen müssen sie sich das Gesagte zu großen Teilen aus dem Kontext kombinieren. Wirklich verstehen können sie kaum mehr als 30 Prozent des Gesprächs, denn viele Worte sind vom Mundbild zu ähnlich und sind beim Lippenlesen daher kaum zu unterscheiden.
Der Gehörlosenverein Essen wurde im Jahr 1930 gegründet
Auch ich stoße bald an meine Grenzen und bin froh, als Pfarrer Emler die Zeit findet, sich als Dolmetscher zu betätigen. Als Gehörlosen-Pfarrer beherrscht er neben der Lautsprache auch die Gebärdensprache perfekt. Seinen Vollbart hat er adrett gestutzt. Das erleichtert das Lippenlesen. Ganz wichtig ist der Blickkontakt, dann ist ein Gespräch mittels Gebärden auch über eine größere Entfernung möglich.
Mit Emlers Hilfe erfahre ich, dass Martina Meurer (69) seit 27 Jahren dem Evangelischen Gehörlosenverein Essen angehört, der schon 1930 gegründet wurde. Vor zweieinhalb Jahren übernahm sie den Vorsitz. Die Betreuung der Mitglieder, die Gestaltung der monatlichen Versammlungen gehören zu ihren Aufgaben. Regelmäßig schaut sie in Holsterhausen vorbei und bringt Ideen zur Gestaltung des Treffens ein.
Martina Meurer ist gehörlos von Geburt an. Die Gebärdensprache in den Grundzügen erlernte sie ab dem vierten Lebensjahr und hat ihr Wissen nach und nach vertieft. Was wichtig ist, denn die Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache, auch wenn sie einer anderen Grammatik folgt als das gesprochene Wort. So werden Inhalte bewusst sinnvoll verkürzt, um sie einfacher darstellen zu können.
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Obwohl sich die Gebärdensprache weltweit oft ähnlicher Gebärden bedient – beispielsweise bei Zahlwörtern oder auch bei Begriffen wie „Auge“ oder „Bauch“, dem „Sehen“ oder dem „Essen“ – so ist sie längst nicht so international wie gedacht. In den USA gebärdet man anders als in Deutschland, was mit der Entwicklung der Sprache im jeweiligen Land zusammenhängt. Weltweit gibt es rund 200 Gebärdensprachen – und es gibt sogar regionale Dialekte.
In Deutschland ist die Gebärdensprache erst seit 2002 offiziell als eigenständige Sprache anerkannt. Seitdem werden Dolmetscherkosten für Besuche beim Arzt oder bei wichtigen Terminen, zum Beispiel vor Gericht, übernommen.
Der Treffpunkt in Holsterhausen ist jedoch nur eine Anlaufstelle für Gehörlose. Seit 1990 pflegt die Gemeinde eine Kooperation mit dem Seniorenzentrum Martineum in Essen-Steele. Dort wohnen 14 gehörlose Menschen, die von drei Mitarbeiterinnen betreut werden. Einmal im Monat sind dort Gäste herzlich willkommen. Vernetzt ist die Einrichtung seit 2011 zudem mit dem „Kompetenzzentrum Hörschädigung im Alter“ der Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz NRW und seinen Vorläufern, eine ambulante Beratung für gehörlose Senioren und Seniorinnen.
In der Zeit vom 21. Dezember 2023 bis 8. Januar 2024 bleibt der Treffpunkt der Gehörlosen geschlossen. Erster Termin im neuen Jahr ist Dienstag, 9. Januar, ab 15 Uhr im Haus an der Henckellstraße 22. Ein Wiedersehen gibt es jedoch bereits Heiligabend, wenn um 14.30 Uhr der Ökumenische Gottesdienst in der Kirche Franz-Sales-Haus an der Steeler Straße 261 in Essen-Huttrop beginnt.
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