Essen. Die Frontleute der Essener Linkspartei setzen im Zuge der Abspaltung ihrer bekannten Genossin auf den Neuanfang. Fragt sich, wie viele mitziehen.

Wann dieser elende Streit angefangen hat, kann Wolfgang Freye gar nicht mehr so recht sagen. Es sind wohl eher 15 als 10 Jahre, eine Art Rosenkrieg unter politischen Partnern, der zuletzt noch mal deutlich an Schärfe zunahm. Und deshalb klingt beim Vorsitzenden von 335 Essener Linkspartei-Mitgliedern vor allem so etwas wie Erleichterung durch, nachdem er sich die Pressekonferenz mit Sahra Wagenknecht im Fernsehen angeschaut hat. Endlich Klarheit. Schluss mit Streit. Und doch: „Natürlich eine Scheiß-Situation.“

Denn Freye hält es für durchaus möglich, dass die telegene Genossin mit ihrem soeben gegründeten Bündnis auf Sicht „gleich zwei Parteien kaputtmacht“: Ihre alte und die neue gleich mit, wenn erst einmal „der Hype vorbei ist.“ Wenn sich zeige, dass aus dem Wagenknecht-Team, das nach seiner Überzeugung national-konservative Politik unterm linken Deckmantel anpeilt, „auf Dauer nichts wird“, davon ist der hiesige Linken-Chef jedenfalls überzeugt.

Ex-Ratsfrau schätzt die Zahl der möglichen Austritte auf Essener Ebene auf 50 bis 60

Ezgi Güyildar sieht das gänzlich anders: Die einstige Ratsfrau der Linken, die schon für Land- und Bundestag kandidierte, gehörte am Montag zu den ersten, die ihren Austritt aus der Partei ankündigten. Sie könne, sagte Güyildar auf Anfrage, keiner Partei angehören, „die nicht mehr für die Ideale steht, für die sie einst gegründet wurde“. Der jetzige Kurs im Bund, zeichne „den Weg in die politische Bedeutungslosigkeit“ vor. „Traurig“, sagt sie, die elf Jahre Mitglied war und schon als Schülerin Wahlkampf machte. Wie viele ihr folgen werden? „Ich kann mir vorstellen, dass 50, vielleicht 60 Mitglieder austreten.“

„Das wird keine große Bewegung“, sagt Wolfgang Freye, Vorsitzender der Essener Linkspartei, über das Bündnis Sahra Wagenknecht.
„Das wird keine große Bewegung“, sagt Wolfgang Freye, Vorsitzender der Essener Linkspartei, über das Bündnis Sahra Wagenknecht. © WF

Das wäre nahezu jedes fünfte Mitglied und damit deutlich mehr als der Vorsitzende Freye mutmaßt, der lediglich ein paar einzelne Abgänge erwartet: „Das wird keine große Bewegung sein.“

Tritt aus dem Ratstrio einer über, ist der Fraktionsstatus futsch – und viel Geld dazu

Und doch schaut die Partei mit Sorge, wen es da aus ihren Reihen in die Arme der Ex-Genossin treibt: Sollte etwa eines der drei Ratsmitglieder dem Bündnis Sahra Wagenknechts folgen, wäre mit dem dritten Mandat im Stadtparlament auch der Fraktionsstatus im Rat futsch, und an dem hängen nicht nur viel Geld für die politische Arbeit, sondern auch Jobs in der Fraktion.

Heike Kretschmer, seit einiger Zeit Fraktionschefin der Linkspartei, geht einstweilen nicht davon aus, dass es so weit kommt: Bei einer Fraktionsklausur sei das Thema Wagenknecht kürzlich offen angesprochen, und ein Abgang nicht avisiert worden. Ein schwacher Trost für Kretschmer und die erweiterte Fraktion, der neben dem Ratstrio auch 15 sachkundige Bürger für die Rats-Ausschüsse angehören. Denn die laufende Ratsperiode dauert ohnehin keine zwei Jahre mehr, schon jetzt muss man sich also Gedanken darüber machen, wie die Linkspartei im neuen Zusammenspiel Punkte machen und Stimmen einheimsen kann.

Eine Kandidatur von Sahra Wagenknecht in Essen für den Bundestag wurde abgelehnt

Dass Sahra Wagenknecht und Co. auch als echte Alternative zur AfD punkten, hält Kretschmer für eher unwahrscheinlich, da werde „manches hochgeschrieben“, und ohnehin sei ein Unterschied zwischen Ost und West erkennbar. „Dass die AfD an Stimmen verliert, würde ich ihr sehr wünschen“, ergänzt Wolfgang Freye als Vorsitzender der Linkspartei, allein: So richtig dran glauben mag auch er nicht.

Immerhin: Rund 50 Mitglieder haben die Linken in Essen in den vergangenen Jahren verloren, Freunde wie Gegner der Genossin gleichermaßen, die übrigens anno 2009 um eine Bundestags-Kandidatur in Essen buhlte. Das Ansinnen scheiterte daran, „dass Leute wie ich gesagt haben: Dann gibt’s Theater“, erinnert sich Freye. Fündig wurde Wagenknecht dann in Düsseldorf. Dort wie in Essen wird man sich jetzt neu sortieren, „wir müssen und können neu anfangen“, formuliert Freye, „ohne den Streit, der uns so lange gelähmt hat“. Das könne eine Chance sein.

Oder das Ende.