Essen. Die Gastronomie sucht händeringend Personal? Ein gelernter Koch aus Essen macht da momentan andere Erfahrungen, wie er berichtet.

Die Gastronomie ächzt unter einer akuten Personalnot. Doch für Uwe Kliemann passen das laute Klagelied der Branche und seine eigenen Erfahrungen nicht zusammen. Der Essener ist 60 Jahre alt, gelernter Koch, hat 45 Jahre Berufserfahrung und ist seit einem Jahr arbeitslos. Dutzende Vorstellungsgespräche hat er nach eigenem Bekunden geführt. Einen neuen Job aber hat er bis heute nicht gefunden. Dass Köche quasi mit Kusshand genommen würden, davon spüre er nichts. Da er weiterhin auf Arbeitssuche ist, wollte er sich für diesen Bericht nicht fotografieren lassen.

Uwe Kliemann hat seine Kochausbildung im Essener Hof gemacht und dort die ersten Jahre auch gearbeitet. Danach wechselte er in die Kantine eines großen Konzerns in der Stadt, kochte später in Gastro-Betrieben in Bochum, Moers, Dortmund, Herne und Oberhausen. „Von einem Koch wird erwartet, dass er möglichst viele Erfahrungen sammelt“, begründet Uwe Kliemann seine vielen Stationen. Während seiner Berufsjahre hat er sich außerdem zum Küchenmeister und zum Diät-Koch weitergebildet und sich auch betriebswirtschaftliches Wissen angeeignet.

Seine letzte Stelle in Wesel hat er vor einem Jahr aus eigenen Stücken gekündigt. Die langen Arbeitstage von regelmäßig 14 bis 15 Stunden wurden ihm „zu heftig“. „Ich bin ja bereit, mehr Stunden zu kloppen, aber das muss auch Grenzen haben. Vor allem wenn man die Überstunden gar nicht abnehmen kann.“

Koch fordert: Beruf und Freizeit müssen besser vereinbar sein

Von einer neuen Stelle wünscht sich Uwe Kliemann mehr „Work-Life-Balance“, wie er sagt. Während seiner bisherigen Berufsjahre sei dies allenfalls Wunschdenken gewesen. Wochenenden auch einmal frei zu haben – das war nahezu aussichtslos. Mit Corona aber habe sich die Denke vieler Kollegen geändert, meint er, auch er sieht heute vieles anders. Beruf und Freizeit besser unter einen Hut zu bekommen, das müsse auch in seinem Job möglich sein.

Auch vielen Chefs in der Gastronomie ist das mittlerweile bewusst. Zumindest erklären viele öffentlich, dass sie mehr auf die Wünsche des Personals eingehen müssen. Uwe Kliemann jedoch erlebt in seinen Bewerbungsgesprächen häufig eine andere Realität. „Dass mir der Fachkräftemangel eine bessere Verhandlungsposition verschaffen würde, kann ich nicht behaupten“, meint er.

Der 60-Jährige hat allerdings auch sehr konkrete Forderungen an einen neuen Job. Mancher Chef würde wahrscheinlich von überzogenen Vorstellungen sprechen, aber Kliemann bleibt da deutlich. Er wolle zum Beispiel keinen geteilten Dienst mehr machen. Das heißt mittags und dann wieder abends arbeiten. „Da ist der ganze Tag futsch“, betont er. Auch als Alleinkoch will er nicht mehr in der Küche stehen. Häufig habe er dabei die Erfahrung gemacht, dass er nach einem langen Tag am Herd anschließend allein auch noch die Küche putzen musste.

Bremsen hohe Gehaltsvorstellungen?

Ein wichtiges Thema für ihn ist zudem die Wochenend-Arbeit. „Natürlich will ich auch an Wochenenden arbeiten, aber nicht jedes. Ich möchte auch einmal frei haben, um mit Freunden und der Familie etwas unternehmen zu können.“ Und schließlich ist da die Bezahlung: Als langjähriger Koch mit Führungsqualifikation stellt er sich 3000 Euro netto im Monat vor. Das liegt jedoch weit über dem üblichen Branchentarif, der für „normale Köche“ knapp 2600 Euro vorsieht und für Führungskräfte etwa 3500 Euro – jeweils brutto. Uwe Kliemann aber hält dagegen: „Wer heute sagt, er zahlt nach Tarif, der kann damit nichts mehr reißen.“

In den vergangenen Monaten habe er 60 bis 70 Bewerbungsgespräche geführt, hat selbst eine Stellenanzeige in der Zeitung geschaltet. Seine Erfahrung jedoch sei gewesen, dass viele Gastronomen vor allem Jungköche suchten. Vielleicht um Geld zu sparen? Vielleicht auch, um ihm nicht zu sagen, dass er mit 60 zu alt sei? Häufig stoße er auf Stellenanzeigen, in denen so oder ähnlich steht: „Junges Team sucht ...“ „Da brauche ich mich gar nicht erst zu bewerben.“

Beschäftigtenzahl in der Gastronomie noch nicht wieder auf Vor-Corona-Niveau

Unterdessen hat sich die Personalsituation in der Gastronomie nach der Corona-Pandemie, als viele Beschäftigte ihr den Rücken gekehrt hatten, etwas entspannt. Die Branche zählte Ende vergangenen Jahres in Essen wieder über 6700 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Das sind rund 500 mehr als Ende 2020. Dennoch ist das Vor-Corona-Niveau von 7300 Stellen noch nicht erreicht. Für Uwe Kliemann steht fest: „Die Gastronomie muss in der Realität ankommen. Ein vernünftiger Betrieb braucht vernünftiges Personal, also vernünftige Arbeitszeiten und eine vernünftige Bezahlung.“

Der 60-Jährige wird die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz nicht aufgeben. Die nächsten Tage wird er wieder eine Anzeige schalten und auf die Reaktionen von Gastronomen warten. Er sehe seine Situation gelassen, meint Uwe Kliemann. „Zur Not stelle ich mich die letzten Jahre bis zur Rente in eine Pommesbude und brutzel da noch ein bisschen.“

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