Essen. In Essen-Kettwig nahe dem Ruhrufer lassen Hundehalter ihre Hunde ohne Leine laufen. Dann gehen sie auf Rehe los – mit schlimmen Folgen.

Es ist ein Bild, das einem kalte Schauer über den Rücken jagt: Ein Rehbock hängt qualvoll verendet mit ausgestreckter Zunge und geöffneten Augen in dem grünen Gitterzaun. „Das Reh ist von freilaufenden Hunden zu Tode gehetzt worden ist“, vermutet Landwirt Einhart Im Brahm aus Essen-Kettwig. Das Foto auf seinem Handy – zugesandt von Bekannten – stammt von Ende April. „Und es ist leider kein Einzelfall“, fügt Im Brahm hinzu. Für die brutalen Hetzjagden auf die Rehe macht er jene Hundehalter verantwortlich, die ihre Hunde entgegen den Vorschriften einfach von der Leine und frei herumlaufen lassen.

Schauplatz dieser verstörenden Dramen ist ein langer Geländestreifen am südlichen Ruhrufer in Kettwig. Er beginnt an der Hundewiese Kettwig und reicht bis hinter die Untere Kettwiger Ruhraue. Es schließt ein Biotop und die gut 20 Hektar große Trinkwasserschutzzone ein, die an den Mintarder Weg grenzt.

Beim Ortstermin springen drei Rehe aus dem Gebüsch und suchen das Weite

Landwirt Einhart Im Brahm steht am Mintarder Weg am Tor zur weitgehend eingezäunten Trinkwasserzone. Es herrscht ein Betretungsverbot für Mensch und Hund. Doch viele Hundehalter lassen ihre Hunde bedenkenlos von der Leine – mit schrecklichen Konsequenzen.
Landwirt Einhart Im Brahm steht am Mintarder Weg am Tor zur weitgehend eingezäunten Trinkwasserzone. Es herrscht ein Betretungsverbot für Mensch und Hund. Doch viele Hundehalter lassen ihre Hunde bedenkenlos von der Leine – mit schrecklichen Konsequenzen. © FUNKE Foto Services | Luisa Herbring

Beim Ortstermin an einem frühen Freitagnachmittag im Mai öffnet Einhart Im Brahm am Mintarder Weg das Tor zur weitgehend eingezäunten Trinkwasserschutzzone und rollt mit seinem Geländewagen in Schrittgeschwindigkeit vorsichtig an den zahlreichen Brunnen vorbei in Richtung Ruhr. Es dauert nicht lange, da springen drei aufgeschreckte Rehe aus dem Gebüsch und suchen auf der riesigen Wiese das Weite. In sicherer Entfernung bleiben sie schließlich stehen. „Die äugen zu uns“, sagt Im Brahm. Äugen ist Jägersprache und heißt schauen. Der Landwirt ist Jäger und das Wasserschutzgebiet Teil seines Reviers.

Die Szenerie mit den Rehen verdeutlicht auch, dass sich hier im äußersten Essener Süden am Rande des Ballungsgebietes ein kleines, wildes Paradies herausgebildet hat. Die Rehe finden hier einen reich gedeckten Tisch vor. „Die Äsung ist gut“, sagt der Jäger. Im sogenannten Biotop stehen alte Eichen, es gibt Weißdorne, Brombeergebüsch und Sträucher. Zur Unteren Ruhraue hin hat man einen künstlichen Ruhrarm angelegt. Zwei Nilgänse in der Paarung heben ab und fliegen davon. Schätzungsweise zehn Rehe leben mittlerweile hier, darunter kapitale Böcke, die gut und gerne, sieben Jahre alt werden können. Hier fühlten sie sich geborgen, kämen ihnen nicht ständig Spaziergänger mit ihren freilaufenden Hunden in die Quere.

Gitterzäune als Todesfalle: Rehböcke bleiben mit ihrem Gehörn hängen

Der vorerst letzter Vorfall: Am 27. April fand dieser Rehbock in Kettwig einen qualvollen Tod im Gitterzaun.
Der vorerst letzter Vorfall: Am 27. April fand dieser Rehbock in Kettwig einen qualvollen Tod im Gitterzaun. © privat

Während für die Trinkwasserschutzzone ein Betretungsverbot gilt, ist das Biotop zum Ruhrufer hin für jedermann zugänglich: für Mensch und den angeleinten Hund. Von der Hundewiese aus, wo Hunde ausdrücklich frei herumlaufen dürfen, führt ein schmaler Pfad in Richtung Untere Ruhraue. Zufall oder nicht: Beim Ortstermin läuft ein Mann durchs Gelände und sein Hund tollt – verbotenerweise – frei herum. Einhart Im Brahm hebt die Augenbrauen. „Freilaufende Hunde - das ist hier praktisch die Regel.“

Zu den schrecklichen und mitunter tödlichen Hetzjagden der Hunde auf die Rehe kommt es auch, weil die Trinkwasserschutzzone und das Biotop auf einer Länge von 300 bis 400 Metern nicht durch einen Zaun getrennt sind. Werden Rehe aufgeschreckt, flüchten sie in die riesige Trinkwasserschutzzone – und die Hunde hinterher.

Einhart Im Brahm zeigt zwei Videos, auf dem freilaufende Hunde Rehe hetzen. Der Hund auf einem Video ist so groß wie ein Schäferhund. Er hat keine Chance, einen Bock, eine Ricke oder ein Reh zu fassen. Trotzdem geraten die Wildtiere derart in Panik, dass sie in hohem Tempo in den Zaun rennen. Dieser hat große Gitter, so dass ausschließlich immer wieder Rehböcke mit Kopf und Gehörn hängen bleiben. „Sie verenden auf qualvolle Weise“, berichtet Im Brahm. Der verzweifelte Todeskampf könne mehrere Stunden dauern. „Rehe schreien ähnlich wie Kinder.“ Die Bilder der toten Rehe, sagt der Kettwiger Landwirt, gingen ihm jedes Mal ans Herz.

Kettwiger Landwirt fordert massive Beschilderung mit Hinweis auf Leinenpflicht

Auf der Hundewiese in Kettwig nahe dem Ruhrufer ist es ausdrücklich erlaubt, dass Hunde ohne Leine herumtollen. Wenige Hundert Meter in Richtung Untere Ruhraue hetzen sie Rehe immer häufiger in den Tod.
Auf der Hundewiese in Kettwig nahe dem Ruhrufer ist es ausdrücklich erlaubt, dass Hunde ohne Leine herumtollen. Wenige Hundert Meter in Richtung Untere Ruhraue hetzen sie Rehe immer häufiger in den Tod. © FUNKE Foto Services | Luisa Herbring
Das Gelände nahe der Ruhr ist Naturschutzgebiet und Trinkwasserschutzzone. Hunde sind hier an der Leine zu führen.
Das Gelände nahe der Ruhr ist Naturschutzgebiet und Trinkwasserschutzzone. Hunde sind hier an der Leine zu führen. © GN

Der Konflikt Reh-Hund bestehe schon seit Jahren. „Aber längst nicht in dieser dramatischen Ausprägung.“ Früher sei höchstens ein Reh im Jahr in den Tod gehetzt worden, seit etwa anderthalb Jahren passiere es alle vier bis acht Wochen.

Einhart Im Brahms Erfahrungen mit Hundehaltern seien durchweg schlecht. Sätze wie „Mein Hund tut sowas nicht“ oder „Das hat er noch nie gemacht“ seien Klassiker. Auf seine Aufforderung, den Hund anzuleinen, reagiere so mancher Halter erbost. So mancher erwidere, dass er viel Hundesteuer zahle.

Der ausgebüxte Schäferhund, der bei seiner Hetzjagd gefilmt wurde, hat am 28. Februar einen Polizeieinsatz ausgelöst. Der Halter sei später ermittelt und ermahnt worden, das Reh kam mit dem Schrecken davon.

Hundehalter reden sich oft raus und sagen: „Mein Hund tut sowas nicht“

Zuständig für die Trinkwasserzone und das Biotop ist die Bezirksregierung Düsseldorf. Doch was ist zu tun? Einhart Im Brahm verlangt an erster Stelle eine „massive Beschilderung“ mit Strafandrohung für Verstöße gegen die Leinenpflicht. Ein neuer, engmaschiger Zaun sei ebenfalls wünschenswert, aber wohl nicht finanzierbar. Deshalb regt Einhart Im Brahm an, nahe der Hundewiese einen Wassergraben anzulegen, der Hundehalter von vornherein darin hindere, das Biotop zu betreten.

Empörung und Ungeduld sind Einhart Im Brahm deutlich anzumerken. Rehe sollen nicht mehr zu Tode gehetzt werden, sagt er. „Ich will eine Lösung, jetzt.“

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