Essen. Botox sei erprobt, der Eingriff sicher, werben türkische Abnehm-Kliniken. Doch Kundinnen gerieten in Lebensgefahr. Das erlebte Sarah aus Essen.

Städtetour samt Botox-Behandlung, das ist ein neuer Lifestyle-Trip, von dem manche Touristin nicht erholt zurückkommt – sondern in Lebensgefahr. Die Betroffenen hatten sich in türkischen Kliniken Botox in die Magenwand spritzen lassen, um schneller abzunehmen. Doch das Nervengift löste bei ihnen Botulismus aus, eine höchst seltene Erkrankung, die oft intensivmedizinisch behandelt werden muss.

Gut zwei Dutzend Fälle sind in Deutschland inzwischen bekannt. Die 28-jährige Sarah (Name geändert) liegt seit Anfang März in der Uniklinik Essen und möchte jetzt andere Frauen warnen: „Ich hatte mehrfach Todesangst – und habe diesen Eingriff so bereut“, sagt die Mutter von zwei kleinen Kindern (5, 6).

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In seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Praxiserfahrung habe er nie zuvor einen Fall von Botulismus gesehen, sagt ihr Arzt, Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen. Die Krankheit werde meist durch Lebensmittel – meist Eingemachtes oder Konserven – ausgelöst, die mit Clostridien-Bakterien belastet sind. Diese Bakterien produzieren im Körper das Nervengift Botox. Mit dem eingewecktem Obst und Gemüse sei auch der Botulismus weitgehend verschwunden.

Essener Mediziner: Der Fall ist medizinisch spannend, menschlich hochtragisch

Die Symptome, die Kleinschnitz bisher nur aus dem Lehrbuch kannte, reichen von Lähmungen der Halsmuskulatur über Seh- und Sprachstörungen, Schwäche in Armen und Beinen bis zu Schluck- und Atembeschwerden, die tödlich sein können. „Ein solcher Fall ist medizinisch spannend, aber menschlich hochtragisch.“

Seine 28-jährige Patientin lag viele Wochen auf der Intensivstation, musste beatmet und mit einer Magensonde ernährt werden. Dazu bekommt sie Krankengymnastik, Logopädie, muss auch das Schlucken erst wieder trainieren: „Wir machen einen langsamen Kost-Aufbau, damit nichts in die Lunge läuft“, sagt Kleinschnitz. Denn das wäre mit dem Risiko einer Lungenentzündung verbunden. Nun nehme sie ab, zu einem hohen Preis. „Ich brauchte wochenlang die Atemmaske, war mehrfach kurz vor der Intubation. Ich habe gedacht, ich sterbe.“

Botulismus: sehr seltene Vergiftung, die tödlich sein kann

Botulismus ist eine heute sehr seltene, lebensbedrohliche Vergiftung durch das Botulinum-Nervengift (Botox). Hierzulande erkranken pro Jahr im Schnitt nur fünf Menschen daran. Meist handelt es sich um Lebensmittelbotulismus: Er entsteht wenn man eingemachte Lebensmittel oder solche aus Konserven isst, die mit Clostridien-Bakterien oder ihren Sporen belastet sind. Die Bakterien produzieren im Körper Botox.

Anfangs treten Übelkeit, Erbrechen, Durchfall auf, zudem Sehstörungen. Es folgen Schluckstörungen und Lähmungserscheinungen, die auf die Atemmuskulatur übergreifen und so zum Tod führen können. In den ersten 48 Stunden kann man ein Anti-Toxin verabreichen.

Seit Februar wurden allein in Deutschland schon 27 Fälle registriert, bei denen Patienten sich in Kliniken in der Türkei Botox in die Magenwand spritzen ließen, um abzunehmen: Das Nervengift verringert die Peristaltik, die Nahrung bleibt länger im Magen und das Sättigungsgefühl hält länger an.

Bei der Magen-Behandlung wird Botox „off label“ angewendet, also außerhalb der Zulassung. Ob das Botox überdosiert oder verunreinigt war, sei offen, sagt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Betroffene sollten sich „möglichst schnell neurologisch vorstellen“. Bei rechtzeitiger Behandlung ist eine vollständige Genesung möglich.

Mittlerweile schwebe Sarah nicht mehr in Lebensgefahr, sei aber weiter überwachungspflichtig, sagt Kleinschnitz. Er sei zuversichtlich, dass sie wieder völlig gesund werde und die Klinik bald in Richtung Reha verlassen könne. Bis sie wieder nach Hause zurückkehren kann, werden noch Wochen vergehen. „Drei Wochen lang konnte ich meine Kinder gar nicht sehen, das war so traurig“, erzählt Sarah mit Tränen in den Augen. Für sie steht jetzt fest: „Das war das erste Mal, dass ich etwas habe machen lassen. Und für kein Geld der Welt werde ich es je wieder tun.“

Versprechungen auf Instagram gefolgt

Sie ärgert sich nun, dass sie sich durch die Versprechungen auf Instagram hatte verführen lassen: „Da wurden verlockende Vorher-Nachher-Bilder gepostet. Es hieß, der Eingriff dauere nur eine Viertelstunde und habe keine Nebenwirkungen.“ Verschiedene Kliniken etwa in Istanbul oder Izmir bieten die Behandlung an, die ohne OP oder Vollnarkose gemacht wird: Der Arzt setzt per Magensonde die Botox-Spritzen in die Magenwand. Dadurch werde die Magenbewegung verringert, das Sättigungsgefühl halte länger an. „Ich wollte ein paar Pfunde abnehmen – und das hörte sich mega an.“

So mega, dass sie sich auch von ihrem Ehemann nicht abhalten ließ: „Der sagte immer: ,Mach das nicht. Ich liebe Deine Figur, Du bist schön!’“ Tatsächlich ist Sarah nicht dick, doch sie liebe es, sich zu schminken und zurechtzumachen, wollte den Vorbildern auf Instagram noch näher kommen. Darum ließ sie sich von ihrem Mann nicht abhalten, vereinbarte über eine Vermittlerin in Mülheim einen Termin für den Eingriff in Istanbul, zahlte dafür 550 Euro. Flug und Hotel für ein paar Tage buchte sie privat.

Der Aufenthalt in Istanbul wird zum Horrortrip

Schließlich werben die Anbieter, dass man die Klinik schon nach ein bis zwei Stunden Beobachtung verlassen könne, um zum Beispiel die Stadt zu erkunden. Doch Sarah verlebte die Tage nach dem Eingriff am 24. Februar nicht mit Sightseeing oder Shopping – sondern mit einem Horrortrip: „Ich konnte nur noch völlig verschwommen sehen, hatte Doppelbilder, dann konnte ich kaum noch Schlucken und Laufen.“ Per Sprachnachricht an die Mülheimer Vermittlerin schildert sie ihren Zustand mit panischer Stimme, bittet: „Sag dem Arzt, ich brauche dringend Hilfe.“

Die Vermittlerin schickt sie ausgerechnet zurück in die Schlankheits-Klinik, die von vornherein nicht vertrauenerweckend auf Sarah gewirkt hatte: So hätten die behandelnden Ärzte keine Kittel, sondern Straßenkleidung getragen. Nun mag man sich dort nicht um sie kümmern, wiegelt ab: Ihre Symptome seien ganz normal und würden abklingen.

Grundsätzlich verweisen die Schlankheits-Kliniken auf ihren deutschsprachigen Homepages darauf, dass Botulinumtoxin (Botox) vielfach in der Medizin genutzt werde und völlig sicher sei. Prof. Kleinschnitz bestätigt auch, dass das Nervengift nicht nur angewandt werde, um Falten zu glätten. „Wir verwenden es zum Beispiel um schwere Verkrampfungen zu lösen, etwa nach einem Schlaganfall.“ Für Magen-OPs sei Botox hierzulande allerdings nicht zugelassen.

Essenerin schwebte in Lebensgefahr

Noch rätselt das Robert-Koch-Institut (RKI), warum der Eingriff bei den inzwischen 27 hierzulande bekannten Fällen zu Botulismus führte: „Inwieweit hier eine fehlerhafte Dosierung/Behandlung vorliegt oder vorgelegen hat, wird aktuell von den türkischen Behörden untersucht.“ Auch eine Verunreinigung des Mittels könne nicht ausgeschlossen werden. Erste Kliniken sollen bereits geschlossen worden sein.

Sarah nimmt in jenen verhängnisvollen Tagen in Istanbul ihr Schicksal glücklicherweise selbst in die Hand: Sie bucht einen früheren Rückflug, wird im Rollstuhl an Bord gebracht, alarmiert ihren Mann. Der bringt sie vom Flughafen Düsseldorf sofort in die Uniklinik Essen. Dort wird schon in der Notaufnahme Botulismus diagnostiziert. „Ich war am Ende, aber hier hat man mich gerettet. Ich bin der Uniklinik so dankbar!“

Schlankheits-OP ist gefährlich und hat keinen langanhaltenden Effekt

Zwei Tage nach der Einlieferung kollabiert sie auf der Überwachungsstation, gerät in Lebensgefahr, kommt für Wochen auf die Intensivstation. Einen Monat lang kann sie nicht selbstständig essen, seit Donnerstag (30. März) ist die Magensonde entfernt und sie hat erstmals ein paar Löffel Kartoffelpüree gegessen. Wochenlang hat sie sich per Handy verständigt, nun kehrt ihre Stimme zurück, schwach, aber eindringlich mahnt sie: „Die Vermittlerin hat mir erzählt, dass die Nachfrage nach Magen-Botox gerade im Ruhrgebiet hoch ist. Ich sage: ,Macht es nicht: Es ist so riskant!’“

Selbst wenn die Behandlung komplikationslos verlaufe, sei der versprochene Nutzen übrigens fraglich – erklärte der Präsident der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC), Professor Dr. Detlev Hebebrand, gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. „Wir beobachten das kritisch und sprechen keine Empfehlung aus. Der Effekt einer solchen Behandlung dürfte kaum länger als etwa sechs Monate anhalten“, so Hebebrand. Und: Der Effekt, den Sarah erlebt hat, ist grausam. Auch sie kann nun Vorher-Nachher-Bilder zeigen: Auf den Fotos von der Intensivstation sieht sie mehr tot als lebendig aus. Gut, dass sie jetzt wieder ins Leben zurückkehrt.

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