Essen. Die wichtigsten Fahrradrouten der Stadt Essen sind in einem mäßigen bis schlechten Zustand. Wo ein Gutachten Handlungsbedarf sieht.
Der Start in die neue Fahrradsaison steht bevor. Wer sich schon bald voller Tatendrang aufs Rad schwingen will, sollte zumindest gedanklich lieber nicht zu beherzt in die Pedale treten. Denn Essens Radwegenetz ist in weiten Teilen mäßig bis schlecht. Das gilt für den Ausbaustandard als auch für den Zustand der Radwege. Die Stadt Essen hat das für das sogenannte Hauptroutennetz jetzt schriftlich. Ein Gutachter hat es im Auftrag der Stadt untersucht und für einzelne Abschnitte Noten vergeben. Das Ergebnis: In der Schule wäre die Versetzung mit solch einem Zeugnis stark gefährdet.
Essens Hauptroutennetz ist 206 Kilometer lang, eine Verbindung der wichtigsten Fahrradwege. Wer mit dem Rad unterwegs ist, sollte dort sicher fahren können und besonders schnell vorankommen - so weit die Theorie. Der Ausbaustandard des Netzes lässt allerdings viele Wünsche offen.
Auf 57,7 Kilometern des Netzes schwimmen Radfahrer im Verkehr mit
Für 39,4 Prozent des Netzes vergab der Gutachter die Noten ausreichend oder gar mangelhaft, weil Radwege zu schmal sind, Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden oder gar keine Radwege vorhanden sind – obwohl die Strecke Bestandteil des Hauptroutennetzes ist. Auf insgesamt 57,7 Kilometern des Hauptroutennetzes müssen Fahrradfahrer im fließenden Verkehr mitschwimmen. So beispielsweise auf der Heisinger Straße, auf der Helbingstraße und auf weiten Teilen der Bocholder Straße, immerhin eine verkehrswichtige West-Ost-Verbindung.
Dagegen sind gerade einmal auf 14,7 Kilometern Radfahrstreifen markiert, auf denen Fahrradfahrer auf einer eigenen Spur getrennt vom Autoverkehr radeln können. In weiten Teilen bestehe das Hauptroutennetz nur auf dem Papier, beklagte jüngst die Initiative Radentscheid Essen.
Dort, wo es Fahrradwege gibt, sind diese häufig in einem beklagenswerten Zustand. 29 Prozent der untersuchten Abschnitte bewerte der Gutachter mit der Note ausreichend oder mangelhaft. Wer es im Kreuz spürt wegen der vielen Schlaglöcher oder Baumwurzeln im Asphalt darf sich also bestätigt fühlen.
Auch die Grugatrasse und der Radschnellweg RS1 weisen Mängel auf
Aufgeführt werden unter anderem der Radweg auf dem Deich entlang der Maria-Juchacz-Straße, der Bereich um den Altenessener Bahnhof, aber auch Teile der beliebten Grugatrasse sowie des Radschnellwegs RS1 auf der Trasse der ehemaligen Rheinischen Bahn; für deren Unterhalt ist allerdings nicht die Stadt zuständig, sondern der Regionalverband Ruhr (RVR). Bewertet wurden die Hauptrouten nach Abschnitten – immer von einer Kreuzung bis zur nächsten. Die einzelnen Abschnitte können also unterschiedlich lang sein. Der Zustand einer Route kann mal zufriedenstellend sein, mal mäßig und mal schlecht.
Radfahrer sollen auf einer Hauptroute sicher radeln können und das mit bis zu 30 Stundenkilometern schnell, diesen Maßstab hat der Gutachter für seine Bewertung angelegt. Das ist ein stolzes Tempo, auch wenn man mit einem E-Bike unterwegs ist. „Mit der Note ‘befriedigend’ wären wir zufrieden“, sagt Rainer Wienke, Leiter des Amtes für Straßen und Verkehr.
So aber bleibt das Zeugnis hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Bei jedem fünften untersuchten Abschnitt stellte der Gutachter sogar Sicherheitsmängel fest. Ernüchternd für eine Stadt, die sich seit 1995 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Fahrradfreundliche Städte“ nennen darf und die sich vorgenommen hat, den Anteil des Radverkehrs bis zum Jahr 2035 auf 25 Prozent zu steigern – von zuletzt sieben Prozent im Jahr 2018.
Gesetzgeber erhöht die Standards für Fahrradstreifen
Für den Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) kommt das schlechte Abschneiden nicht überraschend. „Dass beim Hauptroutennetz dringende Nachbesserungen erforderlich sind, war klar“, sagt Essens ADFC-Sprecher Mirko Sehnke.
Das gelte für die Unterhaltung der Radwege wie auch für den Standard als solchen. Sehnke erinnert daran, dass die Stadt durch ein besseres Angebot mehr Bürger dazu animieren will, öfter das Fahrrad zu nutzen statt das Auto.
Derweil erhöht der Gesetzgeber die Standards für den Radverkehr, voraussichtlich ab 2024 müssen neue Radfahrstreifen zwei Meter breit sein, statt 1,60 Meter wie bisher. Zuzüglich eines 75 Zentimeter breiten Sicherheitsabstandes, der zu parkenden Autos einzuhalten ist, sowie den Markierungen auf der Fahrbahn ist für den Radverkehr ein drei Meter breiter Fahrstreifen frei zuhalten, rechnet Rainer Wienke vor. Bei einer zweispurigen Straße wäre das eine Spur.
Wo der Platz dies nicht hergibt, darf sich die Stadt mit sogenannten Schutzstreifen behelfen, die mit einer unterbrochenen Linie markiert werden. Autofahrer dürfen diese Linie überfahren. Das heißt: Wo der Gesetzgeber durch höhere Standards für Fahrradstreifen die Sicherheit für Radfahrer erhöhen will, erreicht er in der Praxis womöglich das Gegenteil.