Essen. Das Snowdance-Festival holt ungewöhnliche Filme nach Essen. Annette Frier brilliert in einem Ehedrama, eine Doku wird zum Generationenporträt.
Filmemachen kann wahrlich existenzbedrohend sein. Fragen Sie mal Daniel Popat. Der Regisseur hat sich für sein Filmprojekt „Stumm vor Schreck“ finanziell so verausgabt, dass er nach Angaben seines Filmteams anschließend sogar wieder bei seiner Mutter einziehen musste. Dazu hat sich Popat beim Filmdreh auch noch das Schienbein gebrochen. Blöd, wenn man nicht nur Regisseur, sondern auch noch einer der Darsteller ist und nur drei Tage und vier Nächte Drehzeit hat. Noch blöder, wenn die Hauptdarstellerin in letzter Minute absagt. Was für ein Glück ist es dann allerdings, wenn eine Schauspielerin wie Annette Frier spontan einspringt. Welch ungewöhnliches und intensives Ergebnis bei dieser Kurzfrist-Konstellation zustande gekommen ist, kann man jetzt beim Snowdance Independent Film Festival in Essen sehen.
Snowdance-Festival in Essen: 78-Minüter ist komplett improvisiert
Ein Mann, eine Frau, eine Puppe und viele Geheimnisse. Wie souverän sich Popats Independent-Film zwischen den Genres bewegt – vom Ehedrama mit Trauerrand zum Mysterythriller, womöglich sogar zum Krimi werden könnte – ist schon bemerkenswert. Noch mehr überrascht diese unter die Haut gehende Produktion, wenn man weiß, dass der Film komplett improvisiert worden ist. Damals im Mai 2022, als Corona noch Regie im Land führte, haben sich ein paar Leute einfach kopfüber in dieses Film-Abenteuer gestürzt. Mit einem Minimal-Setting und Low-Budget entstand der 78-Minüter, der im vergangenen Herbst bei den Hofer Filmtagen bereits den Preis für die beste Regie bekommen hat.
Mutig treibt Popat sein Schauspieler-Paar dabei an die Grenzen des Sagbaren und konfrontiert sie immer wieder mit dem Unausgesprochenen. Zwischen den Eheleuten steht ein schreckliches Unglück, mächtig wie ein Monolith, an dem sich Johanna und Thomas in selbstzerstörerischer Manier abarbeiten. Neben Annette Frier als trauernde, nach Lebenshalt suchende Ehefrau, sorgt Peter Trabner für den starken Gegenpart. Ein Brocken von Mann, so stark wie verletzlich, an dem die zermürbenden Vorwürfe seiner Frau und ein unglaublicher Verdacht nur scheinbar abprallen. Bis zum beklemmenden Ende, bei dem ein Fremder die Situation noch einmal komplett auf den Kopf stellt, bleibt „Stumm vor Schreck“ ein dringliches Kammerspiel mit offenen Fragen. (Weitere Termine: 3. Februar, 15 Uhr, im Astra und am 4. Februar, 20 Uhr, im Sabu).
Film aus Australien ist schon zum zweiten Mal beim Snowdance-Festival dabei
Noch ein Film, bei dem sich die Wahrheit erst allmählich durch die dicke, seit Jahren sedimentierte Schweigeschicht frisst: „The Land“ von Ingvar Kenne hat schon beim letztjährigen Snowdance-Festival, das noch im bayerischen Landsberg stattfand, beeindruckt und den Regiepreis gewonnen. Coronabedingt konnten nur wenige den Film sehen. Deshalb läuft „The Land“ in diesem Jahr noch einmal in Essen. Und Ingvar Kenne ist wie selbstverständlich ein zweites Mal von Down Under nach Deutschland geflogen, um sein Film-Debüt vorzustellen. Kenne ist studierter Fotograf, „The Land“ seine erste Arbeit als Regisseur und Kameramann. Mit den Autoren und Hauptdarstellern Steve Rodgers und Cameron Stewart ist er befreundet.
Auch bei „The Land“ gab es kaum mehr als 40 Seiten Skript und viel Raum für Improvisation. Zwei alte Freunde, Jeremy und Simon, treffen sich nach Jahren wieder, fahren für ein paar Tagen in die Abgeschiedenheit des Outbacks und werden beim Holzhacken und Biertrinken von der Vergangenheit eingeholt. Bald wird klar, dass die beiden ein dunkles Geheimnis haben und gerade noch liebevolle Familienväter nicht nur in den Weiten der australischen Hinterlands die Kontrolle über ihr Triebleben verlieren. „The Land“ hat emotionale Kraft und ist trotzdem eine perfekte Entschleunigungs-Kur für die Augen, ohne schnelle Schnitte und hektisch wechselnde Kameraeinstellungen. Man folgt Jeremy und Simon mit stiller Faszination auf ihrer Reise in die Einöde und in die Vergangenheit. Am Ende dieser Tour kommt niemand zurück, wie er vorher war. (Ingvar Kenne präsentiert „The Land“ noch am 5. Februar, 15 Uhr, im Sabu/Lichtburg).
„Acht Geschwister“ stehen am Abend gemeinsam auf der Bühne des Astra-Kinos
Gar nicht still und einsam wird es am Donnerstag, 2. Februar, 20 Uhr, auf der Bühne des Astra-Kinos. Denn dann stehen sage und schreibe 666 Lebensjahre gemeinsam auf der Bühne: Arno, Ewald, Johannes, Anita, Heinz, Waldemar, Edith und Werner, das sind die „Acht Geschwister“, die Regisseur Christoph Weinert in seiner Kinodokumentation von der Kindheit in Pommern, Flucht und Getrenntsein während des Kalten Krieges erzählen lässt. Gemeinsam sind sie irgendwann nicht nur zurück in das Dorf ihrer Jugend im heutigen Polen gefahren. In den kommenden Wochen gehen die Geschwister auch auf große Kinotour. Zum Start beim Snowdance Independent Film Festival gibt es gleich noch einen Grund zum Feiern: Den 90. Geburtstag eines Bruders. (Weitere Vorstellung: 4. Februar, Sabu/Lichtburg).