Essen. An seinem ganz persönlichen Rückblick auf 20 Jahre Liebe lässt Hagen Rether das Publikum in der Lichtburg teilhaben. Doch sein Programm lebt.
Seit mittlerweile 2003 arbeitet sich Hagen Rether an der „Liebe“ ab, wie es der Titel seines Programms verspricht. Und auch an diesem Abend in der voll besetzten Lichtburg fragen sich manche Zuschauer vielleicht, von welcher Art Liebe wohl die Rede ist. Das Wort als solches spricht Hagen Rether jedenfalls nur einmal aus, indem er vom Liebesdienst spricht, den Holocaust-Überlebende an unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten leisten.
Nächstenliebe könnte es sein, die spürbar wird, wenn er sich selbst als Trauerbegleiter anstatt als Kabarettist verstanden wissen will. Selbstliebe vielleicht, die er sich hier und da vorwirft. Und die Sozialkritik, mit der er dem Publikum immer wieder den Spiegel vorhält, ist durchaus liebevoll vorgetragen. Keine Vorwürfe, wenig Anprangern aber doch oft die resignative Frage: „Warum ist das immer so?“ Denn es geht nicht um Personen, so Rether, sondern um Muster, die wir zerschlagen müssen.
„Die Metzger werden arbeitslos!“ ist tatsächlich der Satz, den er an diesem Abend am häufigsten wiederholt. Die Massentierhaltung, unsere Ernährungsweise und das System dahinter werden von ihm schonungslos aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
Gedanken über die Freiheit, die man „nur merkt, wenn man sie nicht hat“
Auch die „Freiheit“ bewegt Hagen Rether. „Man merkt sie nur nicht, wenn man sie hat“, stellt er fest, und es sind Sätze dieser Art, die man sich gerne länger auf der Zunge zergehen lassen möchte. Aber dafür bleibt keine Zeit, zu anspruchsvoll ist die Gedankenfolge. Auch wenn einem manche Gedankensplitter von seinen früheren Liebesbeweisen bekannt vorkommen mögen: Sein Programm lebt, die Probleme werden komplexer, die Lösungsansätze nicht einfacher und die Protagonisten ändern sich.
Auf seine Frage „Wie schaffen wir es, nicht durchzudrehen?“ gibt er in der letzten Viertelstunde durchaus froh stimmende Antworten mit Klavierbegleitung. Es wird deutlich, dass der Essener, der jahrelang den verstorbenen Arzt und Kabarettisten Ludger Stratmann auf seinem Instrument begleitet hat, studierter Pianist und Folkwang-Absolvent ist. Die zunächst jazzig daherkommende Klavierimprovisation ist weit mehr als ein Schlussakkord. Sie fasst noch einmal den gesamten Abend zusammen. Verzweiflung und Resignation werden vertont in Worte gefasst, gehen über in Trauer, um dann über besagten Liebesdienst in eine hoffnungsvolle Zukunft überzuleiten.
Höhepunkt kurz vor Schluss ist die Vision von Ukrainern und Russen, die sich in hoffentlich naher Zukunft mit Liebe und Verständnis begegnen. Dies mit der dezenten Nationalhymne im Hintergrund und dem Hinweis, dass wir das in den letzten fast 80 Jahren doch auch geschafft haben. Tosender Applaus nach fast vier Stunden Programm.
*Aufgrund eines technischen Fehlers war in einer ersten Fassung des Beitrages Frank Stenglein als Autor genannt.