Essen. Die umstrittene Fußball-WM in Katar beginnt in wenigen Tagen. In etlichen Essener Kneipen werden WM-Spiele übertragen. Wir haben nachgefragt.
Eigentlich gehört es zu einer zünftigen Fußball-WM dazu: sich mit guten Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen zum Rudelgucken zu treffen. Und das am liebsten in einer gemütlichen Kneipe mit Großbildschirm, Frischgezapften und im aktuellen DFB-Trikot. Wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel der umstrittenen Winter-WM in Katar will hierzulande noch kein WM-Fieber aufkommen, wie es früher der Fall war. Eine Umfrage bei Essener Wirten zeigt: Die einen boykottieren die WM, andere ziehen das Programm durch wie immer und wiederum andere diagnostizieren ein generelles Desinteresse an der Nationalmannschaft.
Die angesagte Viktoria-Klause in Essen-Katernberg setzt allein schon wegen der Nähe zum Welterbe Zollverein voll auf Bergbau- und Glückauf-Nostalgie. Und als Sportbar platzt sie bei Top-Spielen aus allen Nähten. „Natürlich übertragen wir alle Spiele der deutschen Mannschaft, das ist bei Welt- und Europameisterschaften immer so gewesen“, sagt Gastwirt Daniel Frank. Eigens für die WM werde sogar der Biergarten draußen überdacht. „Wir stellen zwei große Zelte auf und haben drei Fernseher draußen und vier Bildschirme drinnen.“
Viktoria-Klause in Katernberg: Drei Bildschirme im Biergarten und vier drinnen
Die Viktoria-Klause („gemütlich, urig, modern“) im Essener Norden lebt von einem treuen Stammpublikum. „Die Leute werden kommen“, ist sich der Wirt sicher. Die WM zu boykottieren, hieße auch, dem eigenen Wirt die Rote Karte zu zeigen. Nach herben Einbußen während der Pandemie sind die Gastwirtschaften auf Einnahmen angewiesen. Und Daniel Frank legt sich für seine Stammgäste ins Zeug. Wie es sich für einen überzeugten Essener Lokalpatrioten ziemt, gibt’s frischgezapftes Stauder – und passend zur Jahreszeit stehen Weihnachtsmarkt-Klassiker wie Glühwein und Lumumba auf der Getränkekarte. Ferner im Angebot: warme Waffeln.
Normalerweise öffnet die Vikoria-Klause nachmittags um 16 Uhr, aber zur WM schließt Frank die Türen auch früher auf – egal ob werktags um 14 oder sonntags um 10 Uhr. Der fußballbegeisterte Wirt hofft, dass Hansi Flicks Auswahl weit kommt. „Ich sehe sie mindestens im Halbfinale.“
Im Filou auf der Altenessener Straße regiert seit jeher der RWE. Die rauschende Aufstiegsfeier ging dort bis in den nächsten Morgen. Die Vorbereitungen für die WM liefen erst langsam an, berichtet Gastwirtin Linda Emde: „Auf jeden Fall wird in Schwarz-Rot-Gold geschmückt“. Die Sportsbar überträgt auf drei Bildschirmen alle Deutschland-Spiele. „Ich bin gespannt, ob genug Leute kommen“, sagt die Wirtin.
„Früher oder später“ in Rüttenscheid: Weniger Interesse an der Nationalmannschaft
Sehr gedämpft ist die Stimmung im „Früher oder später“ in Rüttenscheid. Das liege nicht nur an der WM, die zu einer völlig unpassenden Jahreszeit veranstaltet werde. „Die Nationalmannschaft zieht einfach nicht mehr“, sagt Gastwirt Christian Krause. Bei der WM in Brasilien sei das Lokal „rappelvoll“ gewesen. Damit das Bier schnell genug an die Rudelgucker kam, habe er draußen eigens Kühlschränke mit Flaschenbier aufstellen müssen. Doch das sei schon seit Jahren nicht mehr notwendig gewesen.
Das zunehmende Desinteresse an der Nationalmannschaft beobachtet der „Früher oder später“-Wirt schon seit einiger Zeit. „Ein spannendes Bundesliga-Spiel zieht mehr als ein Länderspiel.“
Trotz der WM mit häufig frühen Anstoßzeiten beabsichtigt Christian Krause sein Lokal weiterhin, erst um 18 Uhr zu öffnen. Eine Ausnahme macht er beim ersten Spiel der DFB-Auswahl, die am 23. November in Gruppe E schon um 14 Uhr auf Japan trifft. Die Gruppenspiele gegen Spanien (27. November) und Costa Rica (1. Dezember) werden erst um 20 Uhr angepfiffen. Das „Früher oder später“ überträgt auf drei Fernsehern und einer Leinwand.
„De Prins“ im Südviertel: Wirt boykottiert WM in Katar, Bildschirme bleiben schwarz
Definitiv ins Wasser fällt die WM für die Gäste der Kult-Kneipe „De Prins“ am Isenbergplatz (Südviertel). „Wir übertragen die Spiele nicht, weil Katar die WM nicht hätte bekommen dürfen“, argumentiert Gastwirt Sven Dülfer. Nicht weniger als 15.000 Gründe gebe es dafür. Denn so viele Arbeitsmigranten sind nach einem Bericht von Amnesty International zwischen 2010 und 2019 in Katar ums Leben gekommen. Kritik übt der De Prins-Wirt auch an der Vergabepraxis der FIFA: „Wer am meisten zahlt und am besten schmiert, kriegt die WM.“
Sven Dülfer hat noch etliche Fotos von der WM 2006 in Deutschland auf seinem Handy: das legendäre Sommermärchen. Eines zeigt den Isenbergplatz voller Fans mit viel Schwarz-Rot-Gold. „Da war die Sau los“, erinnert er sich. Seine Stammgäste würden den Boykott mittragen. „Die meisten sind damit einverstanden.“
Dass viele seiner Kollegen die Spiele übertragen werden, will Sven Dülfer keineswegs tadeln. Denn so mancher sei vom guten Geschäft durch Fußball-Übertragungen abhängig. „Ich verurteile keinen, jeder muss es für sich selbst entscheiden.“
Kein Public Viewing: „Das perfideste aller Schurkenstücke der Sport-Moderne“
Public Viewing, das steht fest, wird es in Essen dieses Mal nicht geben. Thomas Siepmann, Inhaber der Werbe-Agentur TAS, hat seit dem Sommermärchen 2006 jeden WM und EM auf riesiger Leinwand übertragen – zuletzt die EM 2021 im Grugapark. Doch dieses Mal boykottiert der Werbeunternehmer das Fußball-Spektakel. Die WM-Vergabe 2010 an Russland und Katar ist für ihn „das perfideste aller Schurkenstücke der Sport-Moderne“. „Allein der Gedanke daran auf den Gräbern von über 10.000 Arbeitern zu feiern, die den Großmachtfantasien der Herrscher von Katar während der Bauarbeiten zum Opfer gefallen sind, ist an Perversität kaum zu ertragen“, empört sich Siepmann.