Essen-Bergerhausen. Betty und Jochen Lipski aus Essen haben sich in einer Behinderten-WG kennengelernt. Warum ihr Alltag als Ehepaar seit 25 Jahren gut funktioniert.
- Eine Essener Paar mit Handicap bereitet sich auf die Silberhochzeit vor.
- Sie haben sich in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung kennengelernt.
- Mit ihren Fähigkeiten ergänzen sie sich.
Bei Betty und Jochen Lipski laufen die Vorbereitungen für ihren großen Tag: Am Freitag, 2. September, feiert das Paar Silberhochzeit. Das Ungewöhnliche: Die beiden haben sich in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung kennengelernt und verliebt. Das Paar lebt inzwischen in einer eigenen Wohnung, ist aber weiter mit der Gruppe des Integrationsmodells auf der Billebrinkhöhe in Essen-Bergerhausen eng verbunden.
„Dass sich ein Paar in einer unserer Wohngruppen findet, heiratet und die 25 Jahre bis zur Silberhochzeit schafft, ist schon sehr ungewöhnlich“, sagt Gruppenleiterin Birgit Franz, die das Paar als Sozialarbeiterin und Heilpädagogin betreut. Natürlich habe es Höhen und Tiefen gegeben, wie in jeder anderen Beziehung auch. „Aber die beiden haben sich nicht getrennt, sondern sind daran gewachsen.“
Beide Essener haben eine Lernschwäche und ergänzen sich mit ihren Fähigkeiten
Betty und Jochen Lipski haben eine Lernschwäche, können nicht richtig lesen und schreiben. „Aber wir ergänzen uns perfekt, Betty kann rechnen, ich dafür besser lesen und schreiben“, sagt Jochen Lipski. Das sei vor 25 Jahren auch ein Argument gewesen, warum sie unbedingt heiraten wollten. Gemeinsam meistern sie den Alltag besser als allein. Dass es aber keineswegs nur Vernunftsgründe waren, die die beiden vor 25 Jahren das Aufgebot bestellen ließen, sieht man ihnen bis heute an. Sie gehen sehr behutsam miteinander um und Jochen Lipski sagt voller Überzeugung: „Ich liebe die Betty noch immer.“
Die heute 57-Jährige stammt eigentlich aus Marl. Der Vater starb früh, die Mutter konnte nicht für alle Kinder sorgen. So wuchs Betty Lipski im Heim auf. Mit 18 kam sie nach Essen, lebte erst im Haus Edith Stein in Frillendorf und zog dann in eine Wohngruppe des Integrationsmodells – was ihr Leben für immer verändern sollte. Denn dort lernte sie Jochen Lipski (67) aus Steele kennen, der ebenfalls im Heim aufgewachsen war.
Das ntegrationsmodell unterhält 17 Wohngruppen
Der Verein Integrationsmodell, Ortsverband Essen, der das Zentrum Billebrinkhöhe im September 2019 von der evangelischen Gemeinde Bergerhausen übernommen hatte, unterhält in Essen 17 Wohngruppen für Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung. In den Gruppen leben sechs bis zwölf Bewohnerinnen und Bewohner, es gibt eine 24-Stunden-Betreuung.
Menschen, die selbstständiger leben können, können zum Beispiel in Paarwohnungen oder Hausgemeinschaften umziehen, werden aber weiterhin von der Wohngruppe aus betreut. Sozialarbeiter helfen zum Beispiel bei der Erstellung eines Haushaltplans, aber auch bei Problemen mit Nachbarn oder Vermietern.
Die Mitbewohner aus der Sechser-Wohngruppe waren natürlich dabei, als sich das Paar vor genau 25 Jahren im Essener Rathaus das Ja-Wort gab. 2013 heirateten Betty und Jochen Lipski dann auch noch kirchlich in der Kapelle der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung in Steele – im feinen Hochzeitsoutfit. „Betty hat sich eine ganz traditionelle Hochzeit gewünscht, mit allen Bräuchen, mit etwas Neuem, Altem, Geliehenem und Blauem“, erinnert sich Betreuerin Birgit Franz, deren Sohn die Braut zum Altar begleitete, wo der Bräutigam – entsprechend aufgeregt – wartete.
Sozialarbeiterin Birgit Franz half der Braut bei der Auswahl des Kleides, das der Bräutigam selbstverständlich nicht vor der Trauung sehen durfte, und kümmerte sich um Blumen, Haare und Make-up. Dass nach der Trauung als Überraschung eine riesige weiße Stretchlimousine vorfuhr, um die frisch Vermählten abzuholen, gehörte für das Paar zu den Höhepunkten des Tages.
Da beide Partner katholisch sind, hatten sie die Kapelle in Steele für die Trauung ausgewählt. „Das heutige Forum Billebrinkhöhe war ja evangelische Kirche und kam deshalb nicht in Frage“, erklärt Birgit Franz, die sich darüber freut, dass auch Mitarbeiter des Kinderheims, in dem Betty Lipski aufgewachsen ist, zur Hochzeit kamen und sie auch für die Silberhochzeitsfeier mit rund 40 Gästen am 2. September auf der Billebrinkhöhe zugesagt haben. „Dann wird es für die beiden auch noch eine Überraschung geben“, will Birgit Franz noch nicht mehr verraten.
Tagsüber hält sich das Ehepaar meist in der Wohngruppe in Bergerhausen auf
„Die beiden verbringen immer noch die Tage hier in der WG, kochen mit, beteiligen sich an Musik- und Kreativgruppen. Sie gehören auch zu unserer Hip-Hop-Gruppe, die vor fünf Jahren im italienischen Rimini Weltmeister geworden ist“, berichtet Gruppenleiterin Birgit Franz. „Auch bei der WM im Oktober im österreichischen Graz werden sie dabei sein.“
Betty und Jochen Lipski sind seit Jahren in Rente, nachdem sie über 20 Jahre in einer Werkstatt für Behinderte gearbeitet haben. Ihre Aufgaben in Montage, Schreinerei, Küche, Garten und Floristik waren vielfältig. Langeweile kennen die beiden auch jetzt nicht, denn zu den Aktivitäten in der Wohngruppe besuchen sie Volkshochschulkurse, in denen sie ihre Lese- und Rechtschreibfähigkeiten verbessern. Früher spielten beide im Fanfarenkorps Grün-Weiß Burgaltendorf, das auch zur Hochzeit ein Ständchen brachte. Jochen Lipski spielt zudem Fußball und feuert seine Rot-Weißen gelegentlich sogar im Stadion an.
Die Hochzeit mit seiner Betty war jedenfalls die richtige Entscheidung: „Das habe ich nie bereut.“