Essen. Stadtdirektor Peter Renzel hält das Bürgergeld für realitätsfern und liegt richtig damit. Das vom Bund gepflegte Menschenbild ist schlicht naiv.
Traditionell muss Essen überdurchschnittlich viel für die Bewältigung der Langzeitarbeitslosigkeit und die Unterstützung der Langzeitarbeitslosen aufbringen. Da ist es mehr als angemessen, wenn sich Stadtdirektor und Sozialdezernent Peter Renzel zum „Bürgergeld“ der SPD-geführten Bundesregierung kritische Gedanken macht.
Was die Bundesregierung hier will, widerspricht der Praxiserfahrung
Und Renzel hat recht: Was hier auf den Weg gebracht wurde, ist sozialpolitisch naiv, widerspricht krass den Erfahrungen der Praktiker und wird die städtischen Sozialausgaben weiter in die Höhe treiben. Denn noch mehr Menschen als bisher wird es nun leicht gemacht, die Sicherungssysteme erst mal als Hängematte zu betrachten, statt sich möglichst vom ersten Tag der Erwerbslosigkeit an aktiv um neue Arbeit zu bemühen und entsprechende Angebote der Jobcenter wahrzunehmen.
Das ist fatal und eine Kehrtwende zurück ins Ideologische. Denn gerade die SPD war es, die in der Ära von Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement mit der pragmatischen Doppel-Maxime „Fordern und Fördern“ die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik stärker vom Kopf auf die Füße stellte. Es war die richtige Konsequenz aus der Beobachtung, dass Teile der Sicherungssysteme zu bequemen Verwahranstalten mutiert waren, statt die Menschen zu motivieren, sich auf ihre Eigenverantwortung zu besinnen. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit bestätigte die Richtigkeit dieser neuen Ausrichtung.
Die Möglichkeit von Sanktionierung muss sein und ist auch moralisch gerechtfertigt
Mit dem Bürgergeld wird das Thema „Fordern“, das ohnehin nicht gerade konsequent durchgehalten wurde, nun in Teilen schlicht abgeschafft. Und das nur, weil die SPD sich aus dem selbst herbeigeredeten Hartz-IV-Trauma meint befreien zu müssen. Die Möglichkeit einer Sanktionierung muss aber sein, sonst funktioniert die Sache nicht. Moralisch gerechtfertigt ist ein gewisser Druck auch, schließlich reden wir hier über Geld, das die arbeitende Bevölkerung aus ihren Steuern und Beiträgen aufbringt und dass jeder nur so lange wie unbedingt nötig in Anspruch nehmen darf.
Essens Sozialdezernent hat da ein Menschenbild, das deutlich näher an der Realität ist, ohne dass man ihm deshalb nachsagen könnte unsozial zu sein. Im Gegenteil, Renzel ist geradezu ein Prototyp der christlich-sozialen Richtung in der CDU – und lebt das mit seiner Arbeit auch vor. Doch verfällt er eben richtigerweise nicht der Sozialromantik, ein Irrweg, den keineswegs nur die SPD kennt.
Gebraucht wird mehr statt weniger „Fordern“ – die Stellenkrise zeigt es
Gebraucht wird etwas anderes, nämlich mehr statt weniger „Fordern“. Das zeigt die Tatsache, dass zahlreiche offene Stellen unbesetzt bleiben und selbst für einfachste Tätigkeiten kaum Bewerber zu finden sind – obwohl beispielsweise in Essen die Arbeitslosenquote bei immerhin zehn Prozent liegt. Es war bisher schon ein Skandal, dies mehr oder weniger achselzuckend hinzunehmen. Doch statt das Motivierungsproblem mit mehr Entschlossenheit anzugehen und sich dafür eben auch mal mit den „Kunden“ anzulegen, werden die Jobcenter nun genötigt, die glatte Gegenrichtung einzuschlagen. Falscher kann Politik nicht sein.