Essen. Folkwang und die Stadt: Museum macht City-Nord zum Ort des künstlerischen Austauschs. Anne Berlit lässt Gefangene der Essener JVA zu Wort kommen.
Wer beim Rundgang durch die Essener City-Nord Stimmen hört, der muss sich derzeit nicht wundern. Die sprechende Litfaßsäule, die da mitten auf der Viehofer Straße steht, führt kein seltsames Eigenleben. Sie gehört zum großangelegten Projekt „Folkwang und die Stadt“, das noch bis zum kommenden Wochenende für eine ganz besondere Begegnung von Kunst und Gesellschaft mitten in der nördlichen Innenstadt sorgt.
Das Museum Folkwang ist anlässlich seines 100-jährigen Bestehens vor die Tür gegangen. Präsentiert wird zwischen Berliner Platz und Kopstadtplatz ein Parcours, für den internationale Künstlerinnen und Künstler in Zusammenarbeit mit lokalen Projekten und Initiativen ortsspezifische Projekte erarbeitet haben. Das Museum will sich damit zur Stadt hin öffnen und den Dialog von Kunst und Stadtgesellschaft neu beleben. Die Essener Künstlerin Anne Berlit bringt mit ihrer Arbeit „Licht am Ende des Tunnels“ dabei Botschaften von Menschen zur Sprache, die sonst keine Chance haben, im Stadtraum Gehör zu finden. Aus den installierten Lautsprechern der Litfaßsäule dringen Gespräche, die Berlit mit Insassen der Justizvollzugsanstalt geführt hat.
„Licht am Ende des Tunnels“ ist eine von 18 Stationen in der City Nord, die das Museum Folkwang mit künstlerischen Interventionen neu erschlossen und in den Blickpunkt gerückt hat. Seither hat sich der Berliner Platz in eine Art Community-Garten verwandelt, das Café Konsumreform bittet zur „Expo Alternativ“. Die ehemalige Tabledance-Bar „Naked“ wurde zu einer Videokunst-Galerie, wo uns Anouk Kruithoft auf acht großformatigen Projektionsflächen Menschen aus aller Welt beim Tanzen zusehen lässt. Und in der Grünen Mitte grast seit Wochen eine Herde Schafe, um auf den Preisverfall von Schafswolle aufmerksam zu machen. Versorgt werden die Tiere dabei von Anwohnern.
Mit Gemeinschaftsprojekten wie diesen knüpft das Folkwang an das Ideal des Folkwang-Gründers Karl Ernst Osthaus an, Kunst und Leben zu versöhnen. Für Anne Berlit ist das Zusammengehen von Kunst- und Gesellschaftsengagement seit Jahren Praxis. Die Essenerin, 2020 zuletzt mit dem Cityartists Stipendium des Kultursekretariats NRW ausgezeichnet, arbeitet schon seit langem mit Häftlingen der Justizvollzugsanstalt Essen. Regelmäßig bietet die Künstlerin dort Kunstworkshops an – für Berlit ist das „eine Form der Freiheit, zwei Stunden Kreativität anzubieten“.
Gefangene schicken ihre Botschaften nach draußen, die Passanten reagieren
Finale für das Folkwang-Projekt
Noch bis zum 7. August läuft „Folkwang und die Stadt“. Kostenlose öffentliche Führungen gibt es am Mittwoch, 18 Uhr, (Tour Süd) und Sonntag, 16 Uhr, (Tour Nord). Treffpunkt: Eco-Village am Berliner Platz. Anmeldung erforderlich. Tel. 0201 8845-444, info@museum-folkwang.essen.de
Um die „Energien der Zukunft – Handeln gegen die Klimakrise“ geht es am 4. August. Der Künstler Julius von Bismarck, Vertreter von Fridays for Future und weitere Gäste diskutieren mit der Essener Umwelt- und Verkehrs-Dezernentin Simone Raskob. Stephan Muschick (EON) und Folkwang-Chef Peter Gorschlüter moderieren. Stillgelegte Gleisanlage am Viehofer Platz. Anmeldung erforderlich.
Am 6. August rollt ein Zug von Hagen nach Essen. Der Brite und Turner-Preisträger Simon Starling bezieht sich dabei auf eine Idee von Folkwang-Gründer Karl Ernst Osthaus Seine Pläne, neben seinem Haus Hohenhof in Hagen eine Künstlerkolonie und die Folkwang-Schule entstehen zu lassen, wurden nie umgesetzt. Der Bauplatz ist heute ein Waldstück. Aus dem Holz hat Starling Holzkohle gewonnen, die nun eine Dampflok aus den 1920er-Jahren antreiben soll, um die Folkwang-Idee symbolisch von Hagen nach Essen zu führen. Teilnahme nur nach Anmeldung.
Mit einem öffentlichen Erntedankfest geht das Projekt „Folkwang und die Stadt“ am 7. August ab 16 Uhr am Berliner Platz zu Ende. Keine Anmeldung erforderlich.
Was in diesen zwei Stunden geschaffen wird, kann man nun zum Teil an der renovierten Litfaßsäule sehen, die Ende der 1980er Jahre zu den Stadtzeichen gehörte, mit denen die Viehofer Straße aufgewertet werden sollte. Von den Veränderungen ist heute nicht allzu viel zu spüren. In trostloser Nachbarschaft zu Imbiss-Buden und Spielhallen gammelte das Stadtmobiliar unbeachtet vor sich hin. Doch nun zieht es mit seinen zunächst rätselhaften Tonspuren, dem Schrift-Laufband und den plakatierten Kunstwerken wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Wer stehen bleibt, wird überrascht sein. Ein inhaftierter Opernsänger gibt da Kostproben seines Könnens, Inhaftierte sprechen über ihre Hoffnungen und Wünsche, und das Geräusch des Auf- und Abschließens der Zellen ist allgegenwärtig.
Sieben Stunden lang hat sie Gespräche aufgezeichnet und daraus jeweils einminütige Tonspuren geschnitten. Die Botschaften, die Gefangene der JVA nach draußen schicken, sind nicht ohne Reaktion geblieben. Die Plakatflächen werden auch von Passanten rege genutzt, die ihre Botschaften auf der Säule hinterlassen. Feinsäuberlich notiert und ohne jegliche Schmierereien, die mancher vorausgesagt hatte. „Von Vandalismus bislang keine Spur“, freut sich Berlit.
Was da an künstlerischen, nachdenklichen auch provokanten Äußerungen zu finden ist, dokumentiert Berlit regelmäßig und trägt die Bilder wieder zurück in die JVA. Es ist der Austausch mit einer von vielen „Parallelwelten“ in der Stadt, die Folkwang auch zum Thema einer Führung gemacht hat – der Rundgang führte übrigens nicht nur in den Knast und ins Kloster, sondern auch ins Vornehm-Viertel Brucker Holt.