Essen. Die neue Eisenbahnbrücke an der Prosperstraße in Essen-Dellwig ist eingeschoben. Alles lief nach Plan. Das Spektakel begeistert die Schaulustigen
Knapp 1000 Tonnen wiegt die neue Eisenbahn-Betonbrücke, die seit Montagvormittag (18. Juli) die Prosperstraße in Essen-Dellwig überquert. Gut fünf Stunden haben die Fachleute gebraucht, um das Brückenteil in die richtige Position zu bringen, die sogenannte Endlage. Zum unbestrittenen Star des Tages avanciert ein selbst angetriebenes Modul-Schwerlastfahrzeug mit nicht weniger als 144 Rädern und 250 Tonnen Leergewicht. Für den Antrieb des Hightech-Geräts sorgen zwei 500 PS-Motoren.
Um Punkt 5.15 Uhr, kurz vor Sonnenaufgang, setzt sich das Fahrzeug, das sie wegen der verwirrend vielen Räder auch „Tausendfüßler“ nennen, in Bewegung. Dutzende Schaulustige und Anwohner, die diesem Technik-Spektakel schon seit Tagen entgegenfiebern, stehen an der Prosperstraße und zücken jetzt fasziniert, ihre Handys und Fotoapparate. Der Erste, von Beruf Hochschullehrer, war noch viel früher zur Prosperstraße gekommen. „Ich bin seit halb vier hier“, sagt er.
„Die alte Eisenbahnbrücke von 1916 war einfach in die Jahre gekommen“, berichtet Projektleiter Christian Dawo (Deutsche Bahn Netz AG). Ein Neubau sei daher weitaus wirtschaftlicher, als ständig an der Alten herumzudoktern. Also ausrangieren. Rund sieben Millionen Euro inklusive neuer Oberleitung kostet die neue Brücke, die nun die Lücke in einer der wichtigsten Güterverkehrstrecken im Ruhrgebiet schließt und Essen mit Bottrop verbindet.
Weil es völlig unmöglich gewesen wäre, den Stahlbeton-Riesen etwa ab Werk über Autobahnen und Bundesstraßen zu transportieren, wurde es quasi an Ort und Stelle hergestellt: am Fuße des Bahndamms auf einem freien Grundstück an der Haus-Horl-Straße. „Die Brücke zählt wahrscheinlich zu den schwersten Bauteilen, die jemals durchs Essener Stadtgebiet bewegt worden sind“, schätzt der DB-Projektleiter.
Gesteuert wird der Schwertransport von Joe Schönfeld aus Bocholt. Obwohl erst 29 wirkt er wie ein Routinier. Fingerspitzengefühl, technisches Verständnis und ein hohes Konzentrationsvermögen sind unbedingte Voraussetzung für seinen Job, bei dem es auf Millimeter ankommt. Der gelernte Lkw-Schlosser, ist die Ruhe selbst, für nervöse Hemden wäre sein Job wirklich nichts. In Bauchhöhe trägt der Bediener das Steuermodul vor sich. „Ich kann damit jedes Rad einzeln steuern.“
Als Schönfeld den Tausendfüßler im Schneckentempo auf die Hausfassade gegenüber zusteuert, halten die Anwohner zum ersten Mal den Atem an. „Nur 2,8 Zentimeter Abstand“, staunt einer. Damit der Koloss sicher bewegt werden kann, haben sie die Prosperstraße auf mehr als 200 Meter Länge und in voller Breite mit mehr als hundert großen Stahlplatten ausgelegt. Sie haben eine Lasten verteilende Wirkung. Somit ist ausgeschlossen, dass Kanal- oder Gullydeckel nachgeben und Räder absacken.
Ulrich Graf ist Eigentümer des Hauses Prosperstraße 50. Sonntagabend haben er und seine Frau die Reisetasche samt Zahnbürste gepackt und haben sich nicht nur wegen des zu erwartenden Krachs für eine Nacht in einem Oberhausener Hotel einquartiert. Auch das Wasser war vorsorglich abgestellt worden. Hinter dem Ehepaar liegen jetzt Wochen voller Lärm und Staub. Als die alte Brücke abgebaut wurde, sei es besonders schlimm gewesen. 14 Tage lang hätten die beiden Presslufthämmer von morgens bis abends geknattert. Eine dünne Staubschicht habe sich in dieser Zeit auf die weiße Putzfassade gelegt. „Wenn ich eine Videokonferenz hatte, musste ich wegen des Krachs mit dem Auto eigens rausfahren“, erzählt Graf.
Mechthild Overmeyer von Hausnummer 48 sitzt auf einem Gartenstuhl und ist von dem Spektakel vor ihrer Tür begeistert. „Mich fasziniert, wie das Ding von da nach da kommt.“ Bis kurz vor sechs habe sie geschlafen und dann frühstücken wollen. „Aber ich sah die vielen Leute und bin ebenfalls raus.“ Manfred Kraemer aus dem Vieselmanns Ried verfolgt das Baustellen-Geschehen schon seit Wochen und ist seit sieben Uhr hier. Zu diesem Zeitpunkt ist der Schwerlasttransport schon weit gekommen. „Das Zuschauen hat sich echt gelohnt, so ein Spektakel hat man nicht alle Tage.“
Ein anderer Anwohner, heute Rentner, früher Experte im Kraftwerksbau, ist vor allem gekommen, um den Schwerlasttransporter in Aktion zu sehen. „Das ist Hightech, und Deutschland ist weltweit führend in dieser Technologie.“
Ein anderer lobt die „absolute Präzision“, mit der der Tausendfüßler arbeite. Reinhard Korczak trägt wegen der Hitze ein weißes Muskelshirt und sagt: „Die Bauleute sind enorm fleißig und immer freundlich, ich habe oft gefilmt und viel auf Facebook gestellt.“
Der Transport klappt wie am Schnürchen und auch das millimetergenaue Einschieben des Brückenteils gelingt ohne Komplikationen. Der Plan sah vor, dass der Koloss gegen Mittag sein Ziel erreicht. „Tatsächlich sind wir zwei Stunden früher fertig geworden“, freut sich Projektleiter Christian Dawo.
Um kurz nach elf posieren die Bauleute stolz fürs Gruppenbild vor der fertig eingeschobenen Brücke und dem Schwerlasttransporter. Als dieser von der Bildfläche verschwindet, erscheint im Hintergrund ein Imbisswagen, den das Bauunternehmen als kleines Dankeschön für das Team herangekarrt hat.