Essen. 2016 deckt eine Pharmazeutin Medikamentenversuche an Essener Heimkindern auf: eine Pionierarbeit. Nun wird der Komplex landesweit erforscht.

Die Pharmazeutin und Medizinhistorikerin Dr. Sylvia Wagner hat bereits 2016 mit ihrer Forschungsarbeit über Medikamentenversuche und Arzneimittel-Missbrauch an Heimkindern des Essener Franz Sales Hauses skandalöse Zustände aufgedeckt. Jetzt legt das NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales nach und lässt diesen Komplex für die Jahre 1946 bis 1980 landesweit gründlich untersuchen. Dem vom Düsseldorfer Wissenschaftler Professor Dr. Heiner Fangerau geleiteten Forscherteam gehört Sylvia Wagner als Mitarbeiterin ebenfalls an.

Minister Laumann: „Dunkles Kapitel unserer Landesgeschichte“

Sie hat mit ihrer Untersuchung Pionierarbeit geleistet und einen Stein ins Wasser geworfen“, sagt Fangerau, der an der Heinrich-Heine-Universität das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin leitet. Die Medikamentenversuche im Franz Sales Haus seien keinesfalls ein Einzelfall gewesen, Fangerau spricht von einem „strukturellen Problem“. Die Gemeinschaft aus renommierten Forscherinnen und Forschern verschiedener Hochschulen wolle herausfinden, welches Ausmaß Medikamentenversuche in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten zwischen Rhein und Weser hatten.

Um Heimkinder im Franz Sales Haus ruhig zu stellen und zu disziplinieren, verabreichte der damalige Anstaltsarzt Dr. Waldemar Strehl ihnen die berüchtigten „Kotz- und Betonspritzen“: Psychopharmaka, mit denen die „Tabletten-Kinder“ einer „Dämmerschlafbehandlung“ unterzogen wurden. Ein Heimkind erlebte die Spritzen so: „Zuerst wurde dir kalt, dann warm, du warst schon nach wenigen Minuten high und wie gelähmt.“ Beton- und Kotzspritzen – diese Begriffe stehen beispielhaft für das Leid, das wehrlosen Heimkindern auch in anderen Einrichtungen von Ärzten und Heimpersonal zugefügt worden ist. „Dieses dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte muss aufgeklärt werden. Die Untersuchung soll ans Licht bringen, was damals geschehen ist und Verantwortliche klar benennen. Das sind wir den Betroffenen schuldig“, sagt Sozialminister Karl-Josef Laumann.

Nach den Enthüllungen von Sylvia Wagner beauftragte das Franz Sales Haus die Bochumer Wissenschaftler Dr. Uwe Kaminsky und Prof. Katharina Klöcker damit, eine weitere, umfassende Studie zu erarbeiten. Sie trägt den Titel „Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses“ und ist 2020 im Aschendorff-Verlag Münster (270 Seiten) erschienen. Anhand von 100 Heim-Akten bestätigen sie die erschütternde Diagnose Sylvia Wagners: Etwa 58 Prozent der Kinder und Jugendlichen mussten damals Psychopharmaka schlucken: Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer. Jeder dritte Bewohner erhielt obendrein starke Beruhigungsmittel. Jeder Zehnte bekam Mittel gegen Epilepsie, obwohl gar keine Epilepsie vorlag.

Pillen und Spritzen als Strafe: Einnahme gegen den Willen der Opfer

79 Heimkinder gaben in Interviews an, dass sie die Medikamente zum Teil gegen ihren Willen nehmen mussten. Die Pillen hätten vor allem dazu gedient, sie zu bestrafen. Oder sie müde zu machen. Einige geben zu Protokoll, dass sie mit Tabletten und Spritzen bestraft worden sind, wenn sie sexuelle Dienstleistungen verweigerten.

Belege für Medikamentenversuche im Franz Sales Haus hatte Sylvia Wagner in den Archiven des Pharmakonzerns Merck gefunden. So sei das Medikament „Decentan“, das 1957 auf den Markt kam und hauptsächlich bei Psychosen und Schizophrenie verwendet werden sollte, in einem „überproportional hohen“ Maß auch bei den Essener Heimkindern eingesetzt worden.

Professor Heiner Fangerau: „Niemand hat damals genau hingeguckt“

„Niemand hat damals genau hingeguckt“, berichtet Professor Fangerau. Die Kinder seien meistens ohne Angehörige aufgewachsen, die Jugendämter hätten sich kaum um sie gekümmert und das Personal in den Heimen sei schlecht oder gar nicht ausgebildet gewesen.

Um Licht ins Dunkel zu bringen, haben die Forscher mehrere Zugangsweisen im Blick. So soll zusammen mit Fachleuten der Evangelischen Hochschule Berlin im Internet ein Zeitzeugenportal aufgesetzt werden. setzen. Ferner sollen Arzneimittelproduzenten und Ämtern angesprochen werden, um sich möglicherweise Zugang zu historischen Akten zu verschaffen.

Das Land finanziert die Studie mit 430.000 Euro, Ergebnisse sollen in rund zwei Jahren vorliegen.