Demütigungen durch Nonnen, Faustschläge und ständig Tabletten: Ehemaliger Bewohner des Franz-Sales-Hauses berichtet über traumatische Erlebnisse.
Essen . Die schrecklichen Erlebnisse im Franz-Sales-Haus in Essen liegen schon mehr als 50 Jahre zurück. Aber Franz-Josef Berg (* Name geändert) kann sich selbst an winzige Details erinnern. Der 65-Jährige zählt zu jenen Heimkindern, die in den 1950er- und 1960er-Jahren mutmaßlich das Opfer von Medikamentenmissbrauch und Arzneimittelversuchen in der Ära des berüchtigten Heimarztes Dr. Waldemar Strehl geworden sind. Ein Skandal, den das Franz-Sales-Haus inzwischen wissenschaftlich hat aufarbeiten lassen.
Das Regime der „Barmherzigen Schwestern von der Heiligen Elisabeth“ hat Berg als überhaupt nicht barmherzig in Erinnerung. Im Gegenteil. Die kasernenartige Unterbringung im großen Schlafsaal, das Wecken früh morgens zwischen fünf und sechs, das Antreten vor dem Frühstück – dieser beinahe militärische Drill ist typisch für die bleierne Nachkriegszeit. „Wir mussten uns in Reih und Glied aufstellen und die Finger zeigen“, erzählt Berg. „Wenn sie dreckig waren, haben die Nonnen mit einem Stöckchen draufgehauen, Schwester Bonavita war die Schlimmste.“
Tabletten gehörten zum Frühstück wie Milch und Brot
Tabletten gehörten in der katholischen Einrichtung für viele Kinder zum Frühstück wie Milch und Brot. Mal sind die Pillen blau, mal weiß, mal gelb. „Ich habe meistens die gelben gekriegt, manchmal sogar drei auf einmal.“ Wie Feldwebel wachen die Ordensfrauen beim Morgen-Appell darüber, dass die Kinder die Medikamente tatsächlich runterschlucken – unter Drohungen wie: „Zuerst die Tablette, sonst gibt’s kein Frühstück.“
Jahrzehntelang verliert Franz-Josef Berg kein Sterbenswörtchen über die traumatischen Erlebnisse im Heim. Selbst seiner Frau und den beiden Töchtern (39 und 41 Jahre) erzählt er nichts von der erlittenen Qual. „Ich habe alles verdrängt.“ Erst vor zwei Jahren bricht er sein Schweigen und packt aus. Er beginnt zu forschen, Akten einzusehen und unbequeme Fragen zu stellen.
Die Initiative zum Interview geht von Berg aus. Wir treffen uns in seinem riesigen Haus am Niederrhein nahe der holländischen Grenze. Er ist ein ernster Mensch mit festem Händedruck und rheinischem Akzent, trägt eine Camouflage-Hose, dazu das passende Sweatshirt. Vor ihm liegen eine Heimakte und zwei ausgedruckte Seiten voller schmerzhafter Erinnerungen. Er sagt: „Ich möchte, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt.“ Was auffällt: Neben der Wohnzimmertür hängt ein schlichtes Kreuz.
Absichtliche Fehldiagnose: Schwer erziehbare Kinder werden als schwachsinnig eingestuft
Das Franz-Sales-Haus in Huttrop ist eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Viele Heimkinder galten in den 1950er- und 1960er-Jahren als schwer erziehbar, in den Akten der meisten Kinder findet sich die Fehldiagnose „Schwachsinn“ oder „Psychopathie“. Auch den kleinen Franz-Josef stufen sie völlig zu Unrecht als schwachsinnig ein.
Von den 700 Bewohnern im Jahr 1959 sind nur ein Viertel Mädchen. Die Hälfte der Kinder sind unehelich geboren und gelten als „Kinder der Sünde“. Auch Franz-Josefs Familienverhältnisse sind bis zum heutigen Tage unklar. Er hat mehrere Geschwister von unterschiedlichen Vätern. „Meinen leiblichen Vater kenne ich nicht.“ Seine Mutter (Jahrgang 1929), die er niemals mit „Mama“ angeredet hat, sieht er kaum. Einmal verletzt sie ihn nach wenigen Tagen mit der ungeduldigen Frage: „Wann fährst du wieder?“
Er ist noch Säugling, als seine lange Odyssee aus Gewalt, Prügel und Missbrauch beginnt. Sein erstes Heim ist das St.-Josef-Stift in Wachtendonk. Aus der Akte, die er in Auszügen vor zwei Jahren ausgehändigt bekommt, geht hervor, dass das Jugendamt Kamp-Lintfort der Mutter das Kind wegnimmt, weil sie sich der Unterhaltspflicht entzieht. Aus der Akte erfährt er: „Ich hatte als Säugling blaue Flecken und Striemen, war unterernährt.“ Am 27. Oktober 1961 hält das Jugendamt nüchtern fest: „Franz-Josef war ein schwaches Kind, es hat sich gut entwickelt.“ Später heißt es, er sei „schüchtern, anhänglich und suche Anlehnung“.
1966 beginnt für den inzwischen Elfjährigen ein neues Kapitel. Ein Auto fährt vor und es heißt: „Pack’ deine Sachen.“ Für die nächsten sechs Jahre wird das Franz-Sales-Haus sein neues Zuhause. Das Haus mit der markanten Backstein-Fassade wird er oft als Hölle erleben. „Ich war Bettnässer und wurde von den Schwestern ständig gedemütigt.“ Absichtlich lassen sie ihn einen Umweg über den ganzen Hof zur Wäscherei machen, „damit alle sehen, dass ich ins Bett mache“.
„Zur Strafe musste ich nachts stundenlang mit nackten Beinen auf einer Kokosmatte knien“
Ab nachmittags geben sie ihm nichts mehr zu trinken und abends setzen sie ihn für zwei Stunden in die kalte Badewanne. „Zur Strafe musste ich nachts mit nackten Knien stundenlang auf einer harten Kokosmatte knien, bis mich die Schwester schließlich ins Bett schickte.“ Ein anderes Mal stecken sie ihn stundenlang in eine Zwangsjacke. Und andere Heimbewohner müssen ihn festhalten, wenn eine Schwester ihn mit einem Stock verprügelt. Jahrelang stecken sie ihn in eine Art Einzelzelle „mit Bett und Eimer“, nicht nur nachts, sondern zur Strafe auch tagsüber.
Das Kinderheim ist ein Tatort – und Franz-Josef Berg nicht das einzige Opfer. Die vom Franz-Sales-Haus beauftragten Ruhruni-Wissenschaftler Uwe Kaminsky und Katharina Klöcker berichten über einen Heimalltag aus „Demütigungen, Herabsetzungen, Schlägen, Prügel mit verschiedenen Gegenständen“. Anhand der Heimkinder-Aussagen ist eine lange „Täter-Liste“ entstanden mit dem besonders brutalen Personal. „Schwester Eva, Dr. Waldemar Strehl, Direktor Faber und Schwester Iphigenia“ führen diese Liste des Grauens an. Die Gewalttätigkeit der Letzteren hat auch Franz-Josef Berg zu spüren bekommen. „Schwester Iphigenia hat mir mit einer Suppenkelle die oberen vier Schneidezähne ausgeschlagen.“
Mütterliche Wärme, Geborgenheit, Liebe – das alles hat Franz-Josef Berg in seiner traurigen Kindheit nie spüren dürfen. Im Laufe der Jahre legt er sich ein dickes Fell zu. „Ich habe mir nichts gefallen lassen“, sagt er heute, und fügt hinzu: „Wenn du den Hund ständig schlägst, dann beißt er zurück.“
„Betonspritze“: „Zuerst war dir kalt, dann warm und kurz drauf warst du wie gelähmt“
Franz-Josef wehrt sich oft. Weil der Knabe deshalb als schwieriger Fall gilt, stellt ihn Heimarzt Strehl besonders häufig ruhig. Der Psychiater, Jahrgang 1916, gebürtig aus Bottrop, dient im Zweiten Weltkrieg als Arzt bei der Wehrmacht, kommt lange in russische Gefangenschaft und ist von 1955 bis 1969 im Franz-Sales-Haus eine Art Herrgott in Weiß. „Er ist aufgetreten wie ein Diktator, sprach im Kommandoton und eh du dich versahst, hattest du die Spritze im Hintern.“ Berg erinnert sich an den weißen Kittel, das Stethoskop und eine ständig aufgezogene Spritze, die der Arzt wie eine Waffe mit sich führt und ohne Vorwarnung einsetzt.
Heute weiß man: Die schlecht ausgebildeten Nonnen sind damals heillos überfordert mit der Betreuung lebhafter und tobender Heimkinder. Medikamente dienen deshalb als erzieherische „Hilfsmittel“. Anstaltsarzt Strehl verabreicht – oft auf Drängen der Nonnen – Psychopharmaka, er führt „Giftbücher“, setzt „Kotzspritzen“ und unterzieht die „ Tabletten-Kinder “ (FAZ) einer „Dämmerschlafbehandlung“. Die Wirkung der berüchtigten „Betonspritzen“ hat Franz-Josef Berg so erlebt: „Zuerst wurde dir kalt, dann warm, du warst schon nach wenigen Minuten high und wie gelähmt.“
Medikamente und Heimerziehung
Franz-Josef Berg (* Name geändert) hat eine Entschädigung über insgesamt 15.000 Euro für erlittenes Leid erhalten.
Das Franz Sales Haus geht heute offen mit den dunklen Kapiteln seiner Vergangenheit um. „ Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses“ heißt das Buch der Bochumer Wissenschaftler Uwe Kaminsky und Katharina Klöcker (Aschendorff Verlag Münster, 270 Seiten, 36 Euro).
Über die Arzneimittelversuche des Anstaltsarztes Dr. Waldemar Strehl hat zuerst die Pharmazie-Historikerin Dr. Sylvia Wagner berichtet. Ihre Promotionsschrift trägt den Titel „Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975 (Mabuse Verlag, 243 Seiten; 34,95 Euro).
Neuroleptika wie Reserpin und Esucos, Tranquilizer, Antidepressiva und ein Narkotikum namens SEE gehören im Franz-Sales-Haus zum Alltag. Die Bochumer Wissenschaftler haben mehr als 100 Heim-Akten ausgewertet und sind zum Ergebnis gekommen, dass 58 Prozent der Kinder und Jugendlichen Psychopharmaka nehmen mussten – meist gegen ihren Willen. „Wenn ich mich wehrte, wurde ich von Dr. Strehl und Direktor Faber mit Fausthieben ruhiggestellt – mitunter drei bis vier Mal die Woche“, erinnert sich Berg.
Heimkinder berichten von sexuellem Missbrauch durch Ordensleute
Er spricht sehr schnell, aber mit fester Stimme. Seine Schilderungen klingen glaubwürdig und bestätigen das Unfassbare, das die Wissenschaftler auf 270 Buchseiten ausbreiten. Bergs Erlebnisse schließen das Schicksal anderer wehrloser Kinder und Jugendlicher, die der Willkür ihrer Betreuer und Betreuerinnen gnadenlos ausgeliefert waren, mit ein.
Zur Gewalt durch Tabletten und Faustschläge kommt im Franz-Sales-Haus noch die sexuelle Gewalt hinzu. Nicht nur Kirchenmann Monsignore Hans Faber soll sich an Knaben vergangen haben, selbst Ordensschwestern hätten Jungen sexuell missbraucht. „Sie hatten Lover“, sagt Franz-Josef Berg bitter, und fügt hinzu: „Ich wurde morgens von der Nonne kalt abgeduscht und mit einer Bürste mit langem Stiel im unteren Bereich attackiert, von sexuellen Handlungen des Personals ganz zu schweigen.“ Einen anderen Missbrauchs-Vorfall im Bett einer Ordensfrau habe er beichten müssen. Da habe man ihm aufgegeben: „Wenn die Sünden vergeben sind, darfst du mit niemandem darüber reden.“ Als Belohnung gibt’s einen Wellensittich. „Den hatte ich mir immer gewünscht.“
Als sein bester Freund Selbstmord begeht, kommen Franz-Josef Berg die Tränen
Als Franz-Josef Berg das Heim hinter sich lässt und eine Metzgerlehre beginnt, hört das Bettnässen schlagartig auf. Er heiratet schon mit 21, bringt es in einer Großschlachterei zum Betriebsleiter, arbeitet zeitlebens hart, verdient viel Geld und steht heute finanziell ohne Sorgen da.
Mehrfach fällt in dem Gespräch der Name seines besten Freundes aus Essener Zeiten: Peter (* Name geändert). Er habe dieselbe Gewalt erlebt wie er, sei aber nicht darüber hinweggekommen. 1979, mit nur 24 Jahren, habe sich Peter das Leben genommen. „Als ich das hörte, musste ich weinen.“