Essen. Sie hatten keine Karten und ihr Team kaum Chancen: Vor 25 Jahren schwänzen zwei Schalke-Fans die Uni und fahren zum UEFA-Cup-Finale nach Mailand.

Der Weg zum großen Glücksgefühl beginnt mit einem Tadel. „Also, ich habe schon viele Ausreden gehört, wieso man ein Referat nicht halten kann, aber ein Fußballspiel war noch nie dabei,“ rüffelt der irische Dozent Prof. Dr. Raymond Hickey vor 25 Jahren zwei Lehramtsstudenten in einem Englisch-Seminar an der Uni Essen. Die beiden Mittzwanziger, Anhänger des FC Schalke 04, möchten ihre Erkenntnisse zum Thema „Sociolinguistics“ an einem anderen Termin zum Besten geben, um zum Rückspiel im Finale des UEFA-Pokalwettbewerbs nach Mailand fahren zu können. Es ist das letzte Mal, dass es noch zwei Endspiele gibt in dieser Konkurrenz.

[In unserem lokalen Newsletter berichten wir jeden Abend aus Essen. Den Essen-Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen.]

Der Professor stimmt der Verschiebung des Referats im Mai 1997 schließlich zu, aber dann kommt es zwischen den Männern, die heute beide Oberstudienräte in Essen sind, zu Differenzen über die Reiselogistik und Martin Lorenz zaudert. „Pass mal auf, Kollege!“, mault ihn damals Heiko Majoreck an. „Egal, was du machst, ich fahre jetzt los.“ Am Tag vor dem größten Erfolg in den heute 118 Jahren Vereinsgeschichte gibt es kaum Hoffnung auf einen Triumph. Majoreck verdeutlicht dem Freund: „Die Chance, dass wir gewinnen, die ist total gering. Aber wenn wir gewinnen, dann wirst du ein Leben lang zu hören kriegen, dass du das verpasst hast.“

Aus dem Fotoalbum von Martin Lorenz: Eine Erinnerung an den Triumph von Schalke 04 im UEFA-Cup in Mailand im Mai 1997.
Aus dem Fotoalbum von Martin Lorenz: Eine Erinnerung an den Triumph von Schalke 04 im UEFA-Cup in Mailand im Mai 1997. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Die Schalker Fußballprofis, die in dieser Saison in der Bundesliga nur Zwölfte werden, haben zwei Wochen zuvor das Hinspiel gegen Inter Mailand in Gelsenkirchen zwar durch ein Tor von Marc Wilmots mit 1:0 gewonnen. Dem italienischen Starensemble haben sie damit jedoch nicht dessen Siegessicherheit genommen. „Bei der Dopingkontrolle waren (Ivan) Zamorano und (Gianluca) Pagliuca relativ tiefenentspannt,“ erinnert sich Michael „Mike“ Büskens, 1997 Spieler, heute der Aufstiegstrainer von Schalke 04. „Nach dem Motto, okay, wir haben heute hier zwar 0:1 verloren, aber in zwei Wochen im San Siro mit über 80.000 – da zeigen wir euch mal richtig, wo der Hammer hängt.“

Von Essen im Audi 100 zum Fußball nach Mailand

Martin Lorenz entscheidet sich 1997, damals doch mitzukommen. Die beiden Kommilitonen haben sich dafür von einem ehemaligen Lehrer, ebenfalls Schalke-Fan, dessen Auto geborgt, einen alten Audi 100. Sein eigener Wagen, begründet Majoreck, „hatte keinen Rückwärtsgang“. Die Freunde aus Essen machen noch einen Umweg über die Justizvollzugsanstalt Werl, wo sie Majorecks Bruder Olaf abholen. Er hat dort wegen eines Betäubungsmitteldelikts eine Haftstrafe abgesessen. Auf seine Frage, was anstehe, wird zunächst ein Essen bei der Mutter thematisiert und dann die geplante Fahrt nach Italien. „,Wieso Mailand?‘, hat Olaf gefragt“, erinnert sich Heiko Majoreck und beschreibt eine Szene wie aus einem Blues-Brothers-Film. „,Na, zum Fußball’, hab‘ ich ihm erklärt und Olaf sagte vor der Werler Knasttür: ‚Das ist mein Bruder!‘“

Für ein Spitzenspiel könnte es schulfrei geben

Die zwei Essener Studenten, die 1997 ihr Englisch-Seminar versäumten, weil sie den FC Schalke in Mailand sehen wollten, sind heute beide Lehrer. Martin Lorenz arbeitet am Berufskolleg West in Essen, Heiko Majoreck am Robert-Bosch-Kolleg in Duisburg (momentan ist er meist für den Lehrerverband in Düsseldorf tätig).

Auf die Frage, ob er seinen Schülern heute für ein Fußballspiel freigeben würde, sagt Martin Lorenz: „Wenn Schalke um die Meisterschaft spielen würde oder der RWE in die erste Bundesliga aufsteigen könnte, würde ich denen das schon zubilligen.“

Die Reise führt das Trio an den Luganersee in der Schweiz, wo sie in Mendrisio im Wagen übernachten. Weil sie versehentlich die Kühlbox mit dem Strom aus der Autobatterie speisen, bringen sie den Audi am nächsten Morgen erst durch Anschieben wieder in Gang.

Der Domplatz war blau-weiß

Mittags erreichen sie Mailand – und sind überwältigt. „Der Domplatz war blau-weiß“, blickt Martin Lorenz zurück – die Farben des damals völlig erfolgsentwöhnten Gelsenkirchener Traditionsclubs. Seinen letzten Titel hatte Schalke 25 Jahre zuvor mit dem DFB-Pokal geholt, der letzte internationale Auftritt liegt 19 Jahre zurück. „Das war völlig irre für unsere Generation. Wir hatten ja überhaupt keine Europapokal-Erfahrung. Es war alles surreal.“ Heiko Majoreck schmückt aus: „Zu dem Zeitpunkt ein Endspiel – das hätte auf dem Mond sein können, da wären wir hingeflogen.“ Da muss sein Kumpel grinsen: „Auch mit dem Audi 100.“

Strahlend: die Essener Schalke-Fans (v.l.) Martin Lorenz, Heiko und Olaf Majoreck beim UEFA-Cup-Finale 1997 in Mailand.
Strahlend: die Essener Schalke-Fans (v.l.) Martin Lorenz, Heiko und Olaf Majoreck beim UEFA-Cup-Finale 1997 in Mailand. © Martin Lorenz

Aus ihren studentisch schmalen Geldbeuteln investieren die fußballbegeisterten Essener auf dem Schwarzmarkt in San Siro 800 Mark in drei Karten. Aus Angst, gefälschte Tickets erwischt zu haben, lassen sie den Verkäufer bis zum gemeinsamen Passieren des Stadioneingangs nicht aus den Augen. Sie laden ihn einfach zu einigen Gläsern Bier ein.

Schulterschluss zwischen Rasen und Rängen

Die große Zahl an Anhängern des Gelsenkirchener Clubs ist Heiko Majoreck noch sehr präsent: „Wir skandierten: ‚Ihr habt ein Auswärtsspiel.‘ Und das habe ich damals auch so empfunden.“ Da ist er nicht der Einzige im gigantischen Fußballstadion im Mailänder Stadtteil San Siro. Huub Stevens, 1997 der Trainer der Siegermannschaft, berichtet: „Ich kam damals mit Roy Hodgson, dem Trainer von Inter, auf den Platz und er meinte: ‚Jetzt spielen wir wieder ein Auswärtsspiel.‘“

Zwei, die in Mailand Teil der blau-weißen Wand wurden: Heiko Majoreck und Martin Lorenz.
Zwei, die in Mailand Teil der blau-weißen Wand wurden: Heiko Majoreck und Martin Lorenz. © Martin Lorenz

Der Besuch der Begegnung ist für die angehenden Lehrer aus dem Ruhrgebiet eine Herzensangelegenheit. Was sie wie Tausende anderer Schalke-Fans zu ihrem eigenen Vergnügen machen, wird an diesem lauen Mai-Abend im Giuseppe-Mezza-Stadion zu einem wichtigen Erfolgsfaktor: Vom „Schulterschluss zwischen Rasen und Rängen“ schwärmt Mike Büskens heute noch und hat dabei die volle Gästetribüne in Mailand vor seinem geistigen Auge. „20 oder 25 Tausend, die blau-weiße Wand. Du fühltest dich nicht alleine in diesem Riesenstadion gegen eine Ansammlung von Weltstars.“

Viel Talent, zu wenig Herz

Mit Pagliuca, Zamorano, Giuseppe Bergomi, Youri Djorkaeff, Paul Ince und Aaron Winter gelingt es Inter Mailand lediglich, das Ergebnis aus dem Hinspiel auszugleichen, kurz vor Ende der 90 Minuten durch Zamorano. Schalke übersteht die Verlängerung und siegt im Elfmeterschießen mit 4:1. „Die hatten glücklicherweise zu wenig Herz an diesem Tag,“ sagt Büskens rückblickend über Inter. „Sie hatten viel, viel mehr Talent, aber sie waren sich so sicher, dass es fast schon in Arroganz ausartete. Und dafür wirst du bestraft.“

Auch interessant

Die Analyse der Oberstudienräte (heute beide 50 Jahre alt) ist ähnlich. Martin Lorenz meint zu den Schalker Siegern, die als „Eurofighter“ berühmt wurden: „Das war kein Hochglanzkader, eine Mannschaft, die Fußball gearbeitet und sich selbst eigentlich auch an dem, was sie da machte, berauscht hat.“ Den Studienkollegen, die sich 1997 wenige Stunden nach dem Schlusspfiff auf den Rückweg nach Essen machen, geht noch immer das Herz auf bei der Erinnerung an diese Reise nach Italien. Der Dritte im Bunde, Olaf Majoreck, ist vor Jahren gestorben. Sein Bruder Heiko bilanziert über den damals für sie sehr teuren Trip: „Das war eine der besten Entscheidungen in meinem Leben. Davon zehre ich heute noch.“

Dass sie Zeugen eines Jahrhundert-Triumphs wurden, war vielen Schalke-Fans beim Gewinn des UEFA-Pokals am 21. Mai 1997 in Mailand klar – und manche fassten das besonders hübsch in Worte.
Dass sie Zeugen eines Jahrhundert-Triumphs wurden, war vielen Schalke-Fans beim Gewinn des UEFA-Pokals am 21. Mai 1997 in Mailand klar – und manche fassten das besonders hübsch in Worte. © dpa | Herbert Spies

Für Martin Lorenz ist es gar der „schönste Tag meines Lebens. Definitiv. Also nichts gegen meine Kinder und nichts gegen meine Frau, aber wenn du heiratest, dann weißt du das morgens schon. Wenn du jedoch mit Schalke in Mailand den UEFA-Cup holst, weißt du das nicht – und schon gar nicht 1997.“ Majoreck führt aus: „Direkt danach weißt du es auch noch nicht, du schüttelst im Stadion den Kopf. Ein Italiener neben dir sagt verzweifelt: ‚Wir haben so eine teure Mannschaft. Aber wer ist Schalke 04?‘“

Für Professor Hickey hat sich diese Frage in jenen Tagen wohl beantwortet. Am nächsten Seminartag überraschte er seine Studenten mit diesem Erkenntnisgewinn: „Wie ich erfahren habe, hat es sich für Sie wohl doch gelohnt.“