Essen. 4300 Flüchtlinge kamen im ganzen Jahr 2015 nach Essen. In wenigen Wochen könnten es ebensoviele Ukrainer sein. Unterkünfte sind schon jetzt rar.

Mit Sorge beobachtet die Essener Stadtspitze wie rasant die Zahl von ukrainischen Flüchtlingen steigt. Am Dienstag (22. 3.) sollte die Marke von 3000 Menschen aus der Ukraine klar überschritten werden. Im Rekordjahr 2015 seien insgesamt 4300 Flüchtlinge nach Essen gekommen, erinnert Stadtdirektor Peter Renzel. Nun liege man, nicht einmal vier Wochen nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine bereits bei 70 Prozent der Flüchtlingszahl von 2015. Gehe es so weiter, werde die Zahl in etwa zwei Wochen erreicht. Die Stadt müsse diesmal mehr Menschen noch schneller unterbringen. „Es wird ein Wettrennen mit der Zeit“, sagt Renzel.

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Der Stadtdirektor lobt das große Engagement der Essener, mahnte die Bürger aber auch, sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht zu überfordern. Eine vielleicht traumatisierte Familie aufzunehmen, sei „ein tolles und wichtiges Zeichen“, könne die eigene Familie aber überlasten. „Aus ganz unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel aufgrund zu enger Wohnverhältnisse, klappt das Zusammenleben nicht immer reibungslos.“ So wolle mancher das Privatquartier doch wieder verlassen. „Nun kommen diese Menschen zum Amt für Soziales und Wohnen und müssen – neben den neuen Flüchtlingen, die täglich selbstgesteuert zu uns kommen – auch von uns untergebracht werden“, kritisiert Renzel.

Auf die Ehrenamtlichen in Essen kommt ein Marathon zu

Klar ist allen Beteiligten aber auch, dass die Stadt sich ohne die enorme Hilfsbereitschaft der Essener und Essenerinnen schon jetzt in einer schwer beherrschbaren Situation befände: Schließlich sind von den aktuell knapp 3000 Menschen aus der Ukraine 2133 bei Freunden, Verwandten und Ehrenamtlichen untergekommen. „Man sollte privates Engagement auf keinen Fall abwürgen“, mahnt daher auch der Grünen Bürgermeister Rolf Fliß. Die Ehrenamtlichen würden noch über einen langen Zeitraum benötigt, um Ukrainern Deutsch beizubringen, ihnen bei Behördengängen, Schul- und Wohnungssuche zu helfen.

Ein Hilfstransport aus Essen nahm diese zehn Ukrainer auf dem Rückweg mit nach Deutschland. Sie kamen am Niederrhein unter.
Ein Hilfstransport aus Essen nahm diese zehn Ukrainer auf dem Rückweg mit nach Deutschland. Sie kamen am Niederrhein unter. © RF

„Das wird kein Sprint, sondern ein Marathon“, betont Fliß, der selbst zwei Hilfstransporte in die Ukraine organisiert hat. Beide Male kamen auf dem Rückweg Flüchtlinge mit, die in Köln bzw. am Niederrhein unterkamen, weil sie dort bereits Verwandte haben. Manche solcher Einsätze seien indes zu wenig durchdacht, fürchtet Peter Renzel. Wenn Privatleute Flüchtlinge „in unsere Städte holen und sie für einige Wochen, manchmal nur eine Nacht privat unterbringen und sie dann den Stadtverwaltungen übergeben, ist das zwar gut gemeint, aber steht nicht für eine nachhaltig gute Steuerung“.

Eine systematische, gerechte Erfassung und Verteilung der Ukrainer hatte Oberbürgermeister Thomas Kufen zu Wochenbeginn bereits von Land und Bund gefordert. Erst seit Montag (21. 3.) sollen die Flüchtlinge nach dem „Königssteiner Schlüssel“ verteilt werden, der Einwohnerzahl und Leistungsfähigkeit der Städte berücksichtigt. Dank der Ankunft von 100 bis 200 Ukrainern pro Tag müsste Essen die Aufnahmequote inzwischen zu 100 Prozent erfüllt haben, sagt Stadtsprecherin Silke Lenz. „Also würden wir vom Land keine Flüchtlinge mehr zugewiesen bekommen.“ Doch zum einen müsse sich die Verteilung erst einspielen, zum anderen „werden weiter Menschen auf eigene Faust nach Essen kommen“.

Oberbürgermeister schließt Zeltstädte nicht aus

Man werde städtische Einrichtungen daher erweitern und über die „Taskforce Unterkünfte“ zusätzliche Unterbringungen suchen. Wohnungsgesellschaften und Privatvermieter sollten jede leerstehende Wohnung anbieten, Unternehmen ungenutzte Immobilien melden, fordert Bürgermeister Fliß. „Alles ist besser als Zeltstädte auf der grünen Wiese.“ OB Kufen hat jedoch bereits eingeräumt: „Ausschließen lässt sich auch das nicht mehr.“