Essen. In der Essener Philharmonie ist Raphaël Pichon Spezialist in Sachen alter Musik, „Artist in Residence“. Jetzt ließ er die Engel jubeln.
Weihnachtsoratorium in der Fastenzeit, geht das? Ob gläubig oder nicht, viele Menschen haben sich wenigstens ein diffuses Gefühl für die christliche Jahresgliederung bewahrt, die seit tausend Jahren den Alltag in Europa prägt. Auch wer Bachs Folge von sechs Kantaten für wunderbare absolute Musik hält und vom Text abstrahiert, wird es seltsam finden, nach Aschermittwoch zu hören, wie die Engel jubeln und die Weisen vom Morgenlande den neugeborenen König suchen.
Raphaël Pichon entwickelte übergreifendes Konzert
Und doch: Es passt, wenn ein Denker wie Raphaël Pichon ein übergreifendes Konzept entwickelt, in dem an drei Tagen der ganze Lebenskreis Jesu Christi musikalisch abgeschritten wird. Der „In-Residence“-Künstler dieser Spielzeit der Essener Philharmonie verbindet dazu Johann Sebastian Bachs Kantaten eins, drei und fünf aus dem „Weihnachtsoratorium“ am ersten Abend („Geburt“) mit Kostbarkeiten des Chorgesangs wie Michael Praetorius‘ kunstvoll gesetztes „Es ist ein Ros entsprungen“.
Am zweiten Abend steht mit der „Johannespassion“ das Leiden Jesu im Mittelpunkt, ebenfalls erweitert durch eine Passionsmotette des Renaissance-Komponisten Jacobus Gallus, die noch zu Bachs Zeiten am Karfreitag im Gottesdienst gesungen wurde. Am dritten Tag beschließt die Auferstehung, gefasst in Bachs Oster- und Himmelfahrts-Oratorium, den Zyklus „La Vie du Christ“.
Vielfach ausgezeichnetes Ensemble „Pygmalion“
Mit seinem vielfach ausgezeichneten Ensemble „Pygmalion“ baut Pichon auf der historisch informierten Aufführungspraxis Nikolaus Harnoncourts auf, mildert aber dessen schroff kontrastierende und rhetorisch geprägte Musizierweise in einem weicheren, geschmeidigeren Stil ab. Das vorzügliche, in der Weite der Essener Philharmonie manchmal zu zarte Orchester, beachtet feinste Nuancen in Balance und Differenzierung, pflegt aber keinen permanenten Spaltklang, sondern sucht auch eine früher als „romantisch“ verpönte Verschmelzung.
Weitere Aufführungen
Raphaël Pichon und Pygmalion sind noch zwei Mal zu Gast in der Essener Philharmonie: Am Sonntag, 20. März, kommt das Orchester mit Mozarts drei letzten Sinfonien, am Samstag, 23. April, der Chor mit einem a-cappella-Programm von Ockeghem bis Schönberg. Infos und Karten unter www.theater-essen.de/philharmonie/
Ähnlich vielgestaltig ist das Ausdrucksrepertoire des Pygmalion-Chores. Immer wieder gruppieren sich die Sängerinnen und Sänger neu, um etwa in „Jauchzet, frohlocket“ einen kernigen, schleierlosen Klang zu präsentieren und in den Chorälen den Reiz der Harmonien auszukosten. Die Artikulation ist ebenso makellos wie die Intonation, nur im Chorsopran wirkt die ruhige Souveränität an heikler, offener Stelle gefährdet. Solcher Gesangskunst zuzuhören, ist ein Gewinn.
Noble Stimmkultur von Altistin Lucile Richardot
Unter den Solisten zeigt der Bass Christian Immler eine kraftvolle, stilistisch kontrollierte Stimme. Laurence Kilsby bewegt sich mit tenoralem Feinklang weit weg von der engen Bemühtheit so mancher „historisch“ empfundener Tongebung. Der gepflegt singende Bariton Huw Montague Rendall, Julian Prégardien als Evangelist und die Altistin Lucile Richardot offenbaren noble Stimmkultur; die Sopranistin Ying Fang mit ihrer kopfig-hellen Stimme ist leider, da hinter dem Orchester positioniert, am Anfang kaum verständlich.