Es gibt einen Tatverdächtigen, dennoch hallt der Böllerwurf für Rot-Weiss Essen nach. Was kann der Verein gegen gewaltbereite Fans tun?

Marcus Uhlig war die Erleichterung anzusehen, als Polizei und Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit am Freitag einen Tatverdächtigen präsentierten, der für den verheerenden Böllerwurf beim Spiel zwischen Rot-Weiss Essen und Preußen Münster am vergangenen Sonntag im Stadion an der Hafenstraße verantwortlich sein soll. Die Ermittler sind überzeugt, dass sie den Richtigen erwischt haben. Ein 29-jähriger Familienvater aus Marl und RWE-Fan soll den Böller gezündet haben.

Der Tatverdächtige sei Rot-Weiss Essen nicht bekannt, sagt Uhlig im Anschluss an die Pressekonferenz im Polizeipräsidium im Gespräch mit der Redaktion. Der 29-Jährige ist laut Polizei RWE-Fan, eine Dauerkarte für Heimspiele an der Hafenstraße besitzt er nicht. Noch sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Uhlig geht nach dem Stand der Dinge aber davon aus, dass es sich um die „irre Tat“ eines Einzelnen handelt. Der Polizei ist bislang nicht bekannt, dass der 29-Jährige einer Fangruppierung angehört. Ob es möglicherweise Kontakte gibt, bleibt Spekulation. Die Polizei will dieser Frage weiter nachgehen.

Geworfen wurde der Feuerwerkskörper aus dem Block W1 der Westtribüne, wo sich auch Gruppen versammeln, die der rechten Hooliganszene zugerechnet werden.

Sollte sich der Verdächtige als der Täter erweisen, wird RWE den Fall nicht zu den Akten legen können. Die Verhandlung vor dem Sportgericht steht noch aus. Marcus Uhlig zeigte sich vorsichtig optimistisch, dass RWE um einen drohenden Punktabzug herumkommen könnte. Mitentscheidend dürfte sein, ob RWE ein Fehlverhalten nachzuweisen ist. Was Einlasskontrollen angehe, stehe „alles auf dem Prüfstand“. Verhindern lasse sich eine solche Tat aber nicht, zeigte sich Uhlig überzeugt.

Unter Fans scheint der Böllerwurf ein Ventil geöffnet zu haben. Anhänger und Mitglieder forderten Rot-Weiss Essen auf, sich klar gegen gewaltbereite Fangruppen zu positionieren. Und zwar unabhängig davon, ob der Böllerwerfer tatsächlich zu einer dieser Gruppen gehört oder nicht.

„Man muss kein szenekundiger Beamter oder regelmäßiger Kurvengänger sein, um zu identifizieren, welche unappetitliche Melange aus Alt-, Neuhools und Neonazis tonangebend an der Hafenstraße und innerhalb der rot-weissen Fanstrukturen sind“, schreibt ein RWE-Mitglied in einem offenen Brief an RWE-Vorstand Marcus Uhlig. Nicht nur Fußballinteressierten sei bekannt, dass Rot-Weiss Essen ein Problem mit einer in Teilen gewaltbereiten und/oder rechtsoffenen oder gar rechtsradikalen Anhängerschaft habe.

Der Verfasser des Briefes, der aus Angst vor jenen, die er anprangert, anonym bleiben will, ist nach eigenen Worten überzeugt davon, dass rund um den Verein zumindest in Teilen eine Kultur entstanden ist, die den Böllerwurf und gewalttätige Ausschreitungen beim Hinspiel in Münster erst möglich gemacht hat. Es sei geboten, Missstände zu benennen und aktiv anzugehen, statt den Kopf in den Sand zu stecken, heißt es an die Adresse der Vereinsführung.

Kultbarde „Sandy“ Sandgathe will bei seinem nächsten Konzert nicht im RWE-Trikot auflaufen.
Kultbarde „Sandy“ Sandgathe will bei seinem nächsten Konzert nicht im RWE-Trikot auflaufen. © FUNKE Foto Services | Rebecca Häfner

Ähnlich äußerte sich Thomas „Sandy“ Sandgathe im Netzwerk Facebook. Der Kultbarde, der mit seiner Gitarre inzwischen Zehntausende Euro für das RWE-Sozialprojekt „Herzenswünsche“ eingespielt haben dürfte, kündigte an, bei einem Konzert am Samstag im Restaurant „Fünf-Mädel-Haus“ nicht wie sonst üblich das RWE-Trikot zu tragen. Auch komme der Erlös nicht den Herzenswünschen zugute, sondern den Betroffenen des verheerenden Brandes im Westviertel in der Nacht zu Montag.

Der Böllerwurf habe auch ihn zutiefst erschüttert, schreibt Sandgathe. „Rot-Weiss Essen ist, neben meiner Familie, die zweite große Liebe meines Lebens. Eine Liebe, der ich immer gerne all meine Freizeit und Kraft gewidmet habe. Das hat sich seit Sonntag nun geändert. Und zwar solange, bis sich der Verein proaktiv um die Entfernung dieser Individuen kümmert (...)“. Ein verbales Bekenntnis zum Vereinskodex sei ihm dabei viel zu wenig.

Uhlig spricht von ernstzunehmendenProblemen in Teilen der Fanszene

Sandgathe nannte keine Fangruppen beim Namen, ist sich aber nach eigenen Worten bewusst, dass er sich mit seinem Statement der Gefahr aussetze, „eins aufs Maul zu bekommen“. Auf Facebook bekam er viel Zuspruch für seine Zeilen. Augenscheinlich traf Sandgathe nicht nur den richtigen Ton, sondern auch einen Nerv, als er seine Zeilen verfasste. Der Tatverdächtige war da noch nicht bekannt.

Dennoch: Rot-Weiss Essen sieht sich einer Erwartungshaltung ausgesetzt, sich mit Teilen der eigenen Fanszene anzulegen und dieser zumindest unmissverständlich zu signalisieren: Ihr seid nicht erwünscht.

Was kann RWE tun? Die Botschaft scheint jedenfalls angekommen. „Wir müssen generelle und grundlegende, ernstzunehmende Probleme in Teilen unserer Fanszene konstatieren, ebenso eine zum Teil bedenkliche Entwicklung“, so Marcus Uhlig. „Hierum müssen und werden wir uns kümmern. Und zwar grundsätzlich, unabhängig von dem Vorfall gegen Münster.“

Uhlig spricht von einer „kleinen Gruppe“, die bei Heim- und Auswärtsspielen zunehmend gewaltbereit oder diskriminierend auftritt. RWE dürfe nicht zulassen, dass normale Zuschauer oder Familien mit Kindern sich an der Hafenstraße nicht mehr wohl fühlen. „Dieser Entwicklung müssen und werden wir uns stellen.“

Einfach zu lösen seien die Probleme nicht, sagt Patrick Arnold von der Landesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte NRW. Er beobachtet auch die jüngste Entwicklung mit Interesse.

Dass sich nach dem Böllerwurf Teile der Fanszene verbal gegen jene Gruppierungen am rechten Rand stellten, in deren Reihen sie offenbar den Täter vermuteten, nennt Arnold beachtlich und ermutigend. So etwas habe es bislang noch nicht gegeben.

RWE-Fans soll den „Aufstandder Anständigen“ proben

Von außen betrachtet, sei es aber leicht gesagt, alle anderen unter den RWE-Fans sollten jetzt „den Aufstand der Anständigen proben“, gibt der Szenekenner zu bedenken. Gruppen wie die „Steeler Jungs“ übten das Gewaltmonopol auf der Westtribüne aus, bei einzelnen Personen bestünden Überschneidungen zum rechtsradikalen und kriminellen Milieu. Ein Verein stoße da an Grenzen.

RWE hat nach Einschätzung der Arbeitsgemeinschaft zu lange über den problematischen Teil seiner Fanszene hinweggesehen. Arnold empfiehlt dem Verein, Netzwerke zu knüpfen, auch mit politischen Entscheidungsträgern. Probleme sollten offen benannt werden. Sie zu lösen sei aber keine Angelegenheit von wenigen Wochen, sondern möglicherweise von Jahren. Und: „Alleine“, sagt Marcus Uhlig, „schaffen wir das nicht.“

Nach dem Böllerwurf

Durch den Böllerwurf beim Spitzenspiel der Regionalliga-West zwischen Rot-Weiss Essen und Preußen Münster wurden mehrere Auswechselspieler der Gästemannschaft verletzt. Der Schiedsrichter unterbrach das Spiel zunächst, pfiff es dann aber nicht mehr an. Der Vorfall, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte, wird vor dem Sportgericht verhandelt.

Nach der Detonation richteten RWE-Fans ihre Wut verbal in Richtung Block W1 der Stehtribüne, von wo der Knallkörper augenscheinlich geworfen wurde. Dort stehen Gruppierungen, die der rechten Hooliganszene zugerechnet werden. Zuschauer skandierten: „Wir sind Essener und ihr nicht“ und „Nazis raus“.