Rüttenscheid. Hat sich die Polizei im Streitfall Rüttenscheider Straße „politisch instrumentalisieren“ lassen? Ein Schreiben zur Fahrradstraße und die Folgen.
Die im Sommer 2020 eingerichtete Fahrradstraße auf der „Rü“ ist zum Politikum und wegen ihrer symbolischen Aufladung im Rahmen der so genannten Verkehrswende zu einer ernstzunehmenden Belastungsprobe für das schwarz-grüne Bündnis im Rat der Stadt geworden. Umstritten zwischen beiden Partnern ist die Frage, ob und wenn ja wie genau der Autoverkehr auf der Rüttenscheider Straße weiter eingeschränkt werden soll.
Teil des politischen Spiels ist mittlerweile aber auch die Essener Polizei, deren Leiter der Direktion Verkehr, Ulrich Sievers, im August 2021 eine zunächst nur an die Stadtverwaltung gerichtete Stellungnahme verfasst hat – inklusive der dringenden Aufforderung, endlich mehr Autos von der Rü herunterzubekommen. Entsprechend positiv wurde das langsam durchsickernde Schreiben von jenem Teil der Politik aufgenommen, die Sieverts Meinung teilt.
OB Thomas Kufen war von der Stellungnahme der Polizei nicht begeistert
Weniger begeistert waren dem Vernehmen nach Oberbürgermeister Thomas Kufen, die CDU-Ratsfraktion und nicht zuletzt der Leiter der Essener Polizeibehörde, Polizeipräsident Frank Richter. Letzterer soll intern erklärt haben, er werde es nicht dulden, dass die Polizei Essen sich im Streitfall Rüttenscheider Straße „politisch instrumentalisieren“ lasse.
Die Folge war ein Schreiben vom 15. November 2021, in dem der Polizeipräsident ankündigt, die Verkehrssituation weiter beobachten zu lassen, „um in der ersten Jahreshälfte 2022 zu einer fachlich fundierten Empfehlung zu kommen“, wie es wörtlich in der Verwaltungsvorlage heißt, die der zuständige Fachausschuss des Stadtrates am 25. November beriet. Wie eine Ohrfeige für den eigenen Polizeidirektor wirkt dabei die Formulierung „fachlich fundiert“. Denn war die erste Stellungnahme genau dies etwa nicht?
Mag sein, dass der Polizeipräsident bei seiner Kritik an möglicher „Instrumentalisierung“ auch an Sievers Vorgänger Wolfgang Packmohr gedacht hat, der anlässlich der Vorstellung von Unfallstatistiken gerne Ausflüge in die Verkehrspolitik unternahm und mit markigen Aussagen in Richtung Autoverkehr auffiel, die vor allem bei den Grünen gut ankamen. Nach seiner Pensionierung vor knapp zwei Jahren mutierte Packmohr dann zum Aktivisten und ist mittlerweile Herz und Hirn der Essener Ausgabe des Fußgängerlobbyverbands „Fuss e.V.“ Doch scheint seine Haltung bei der Direktion Verkehr durchaus nachhaltig überdauert zu haben.
Polizei zählte in zwei Wochen rund 133.000 Fahrzeuge in Höhe Girardethaus
Was hat die Beobachtung der Polizei im vergangenen Sommer, auf die Sievers sich bezieht, nun ergeben? Vom 29. Juni bis zum 16. Juli 2021, hatten die Beamten die Verkehrsbelastung auf der Fahrradstraße Rü in Höhe des Girardethauses aus beiden Fahrtrichtung gemessen. „Trotz anhaltender Corona-Pandemie und während der Sommerferien geschlossener Schulen“ seien in jenen zwei Wochen insgesamt über 133.000 Fahrzeuge gezählt worden. „Dies untermauert den konkreten Bedarf verkehrslenkender/-regelnder Veränderungen, um den Erfordernissen einer Fahrradstraße gerecht zu werden“, so die Polizei.
Hinzu kämen eine Reihe weiterer Vorgänge, die dem fließenden Radverkehr störten. So fänden die Be- und Entladevorgänge für die ansässigen Geschäfte „überwiegend auf der Fahrbahn statt“, was mangels Alternativen allerdings nicht verwundern kann. „Der in beide Fahrtrichtungen fließende Verkehr wird dadurch erheblich beeinträchtigt, Fahrradfahrer stehen häufig im stockenden oder sich aufstauenden Verkehr.“ Ein Schicksal, das sie auf der Rü mit den Autofahrern teilen.
Kritik an rücksichtlosen Überholmanövern durch Autos
Ferner heißt es, Radfahrer würden häufig „riskant und rücksichtslos“ überholt. Ab dem späten Nachmittag belästigten zudem so genannte „Auto-Poser“ die Passanten und andere Nutzer der Rü. Die Poser würden mit ihren hochmotorisierten Karossen ohne konkretes Ziel die Rüttenscheider Straße entlang fahren und dabei laute Musik hören. In den Abend- und Nachtstunden werde zudem teils viel zu schnell gefahren.
„Aus Gründen einer gefahrlosen, verkehrssicheren und hindernisbefreienden Radverkehrsführung wird zu einer deutlichen Reduzierung des Kfz-Verkehrs geraten“, schreibt Polizeidirektor Sievers in seiner Zusammenfassung. Die Polizei empfiehlt der Stadtverwaltung konsequentes Durchgreifen. Dies könnten Abbiegeverbote an bestimmten Straßeneinmündungen oder Kreuzungen sein, die Umwandlung der Rü in ein System „gegenläufiger Einbahnstraßen“, zeitlich befristete Halteverbote oder auch Sperren, um den Autoverkehr von der Rü auf andere Straßen zu zwingen.
Die Stadt hat allerdings bislang davon abgesehen, den Autoverkehr weiter einzuschränken. Dabei hatte der Stadtrat doch im Mai 2020 unmittelbar vor der Einrichtung der Fahrradstraße folgendes beschlossen: „Sollte sich nach Fertigstellung herausstellen, dass sich der Anteil des Durchgangsverkehrs bzw. die Verkehrsbelastung nicht verringert hat (...), wird die Verwaltung die Einrichtung eines modalen Filters an der Martin- und Klarastraße vorschlagen.“
OB fürchtet negative Folgen für die Rüttenscheider Geschäftswelt
Während Verkehrsdezernentin Simone Raskob (Grüne) solche Abbiegezwänge für Autos befürwortet, sieht der letztlich entscheidende OB Thomas Kufen (CDU) die Dinge kritisch, weil er negative Folgen nicht zuletzt für die Rüttenscheider Geschäftswelt befürchtet. Auch ist zu befürchten, dass nach Einrichtung von Sperren Neben- und Wohnstraßen stärker mit Verkehr belastet werden.
Raskob soll schriftlich eine zeitlich befristete Einrichtung solcher Abbiegezwänge als eine Art Testlauf vorgeschlagen haben. Der OB habe es aber abgelehnt haben, das Papier zu unterzeichnen und für die politische Beratung freizugeben. Auch in der CDU-Ratsfraktion soll die Meinungsbildung zum Thema Rü-Sperren mit einem eindeutig negativem Ergebnis geendet sein.
Streit um die Frage, was eigentlich genau „Durchgangsverkehr“ ist
Abbiegezwänge – gemeint ist damit, dass Autofahrer am Rüttenscheider Stern in Fahrtrichtung Süden und an der Martinstraße in Fahrtrichtung Norden nicht mehr geradeaus auf der Rü weiterfahren dürfen. So soll der Durchgangsverkehr, der aktuell laut Verwaltung knapp 50 Prozent beträgt, halbiert werden. Rolf Krane, Vorsitzender der Interessengemeinschaft (IG) Rüttenscheid, findet jedoch, dass die Stadt eine viel zu enge Definition von „Durchgangsverkehr“ zugrunde legt. Viele Autofahrer, die unter Durchgangsverkehr fallen, steuerten durchaus Ziele an der Rüttenscheider Straße an, selbst wenn sie über längere Zeit auf der Rü führen.
Fahrrad-Aktivisten, darunter die Initiative „Radentscheid Essen“, sehen das anders und drängen nun umso mehr auf die Einrichtung von Abbiegezwängen. Allen voran von den Grünen wird erwartet, dass sie die proklamierte Verkehrswende auch umsetzen. Die erste Stellungnahme der Polizei lieferte zusätzliche Munition.
Die zweite und wohl vorläufig endgültige könnte dann allerdings weniger eindeutig ausfallen. Polizeipräsident Frank Richter soll der Meinung sein, dass die Fahrradstraße Rü unter Unfallgesichtspunkten bislang unauffällig ist und vor allem verkehrspolitische Themen Aufgabe von Stadtverwaltung und Ratspolitik sind – und nicht die seiner Beamten.