Essen. Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie war an einem Essener Gymnasium zu Gast. Vor Neuntklässlern ging es um ein ernstes Thema.

Was tust Du, wenn Du in Nazi-Deutschland groß wirst, die Parolen für wahr hältst – und dann bricht Deine Welt zusammen? Und deine Helden entpuppen sich als Mörder? Kirsten Boie, eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen der Gegenwart, hat am Gymnasium Überruhr ihre eindringliche Erzählung „Dunkelnacht“ vorgestellt.

Das Literaturfestival „lit.Ruhr“ machte den Besuch der Hamburger Schriftstellerin möglich. Wegen Corona ging man neue Wege: Keine großen Lesungen mehr an zentralen Orten wie Zollverein, sondern die Autorinnen und Autoren kommen an die Schulen. Vor etwa 50 Neuntklässlern las Kirsten Boie aus „Dunkelnacht“ vor, vor Fünftklässlern aus ihrer populären „Sommerby“-Reihe.„Dunkelnacht“ ist das neueste Werk der vielfach prämierten Autorin; es beruht auf wahren Begebenheiten in einer bayerischen Kleinstadt wenige Tage vor Kriegs-Ende im April 1945.

Über den Krieg redeten Onkel und Tanten beim Kaffee – und vor allem als Opfer

Schülerinnen und Schüler aus dem neunten Jahrgang des Gymnasiums Essen-Überruhr während der Lesung.
Schülerinnen und Schüler aus dem neunten Jahrgang des Gymnasiums Essen-Überruhr während der Lesung. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Kirsten Boie wurde 1950 geboren. „Die Folgen des Kriegs“, erzählt sie den Schülerinnen und Schülern, „gehörte für uns zum Alltag.“ Über die Erlebnisse „haben sich Onkel und Tanten beim Kaffee unterhalten.“ Aber eins war immer klar: „Wir haben unsere Verwandten damals vor allem als Opfer des Kriegs gesehen. Doch auch Täter waren unter ihnen. Das haben wir aber erst viel später verstanden.“

Wie wird man zum Täter? Davon handelt „Dunkelnacht“; es geht um drei Jugendliche, von denen sich zwei der Gruppe „Werwolf“ anschließen – gegründet von Goebbels, ging es darum, in den letzten Tagen des Kriegs noch jene Mitbürger der Hinrichtung auszuliefern, die nicht mehr an den „Endsieg“ glauben wollten. So wurden im bayerischen Penzberg Ende April 16 deutsche Bürgerinnen und Bürger von „Werwolf“-Mitgliedern erschossen und erhängt. Kirsten Boie lässt in ihrer Erzählung drei Jugendliche direkte Zeugen werden dieser grausamen Vorgänge – wobei zwei von ihnen bislang glühende Verfechter der Nazi-Ideologie sind.

Eindringlich beschreibt Kirsten Boie das Aufwachsen bis 1945

Wie ist es, in Nazi-Deutschland aufzuwachsen? „Wenn jede Schulstunde mit ,Heil Hitler’ beginnt, wenn im Radio ausschließlich Propaganda gesendet wird und sich Deine Eltern nicht trauen, Zweifel oder Kritik zu formulieren . . .“ – so skizziert Kirsten Boie gegenüber den Essener Schülern die Lage der Jugend bis 1945. Dann: Ist es nachvollziehbar, dass bis ‘45 eine Jugend heranwächst, die den Nazis fast blind folgte. Was kaum ging: eigenständiges Denken als Kind oder Jugendlicher, menschliche Maßstäbe als Kompass jeden Tuns.

Mehr noch: Kirsten Boie arbeitet in ihre Erzählung auch eine zarte Liebesgeschichte ein. „Dafür habe ich Ärger von einem Zeitzeugen bekommen“, berichtet die Schriftstellerin. „Jemand, der damals dabei war, sagte, Liebe sei in der Nazi-Zeit überhaupt nicht möglich gewesen.“ Weil man sich einander nicht vertrauen konnte und viele – auch innerhalb ihrer Familien – die Gedanken lieber für sich behielten. „Widerstand zu leisten“, schlussfolgert Kirsten Boie heute, „war total schwierig.“ Und sie berichtet von den fatalen Entwicklungen nach 1945: Wie es – auch den Tätern von Penzberg – gelang, vor Gericht freigesprochen zu werden trotz der Morde. Wie überzeugte Nazis nach dem Krieg wieder als Lehrer im Beamten-Status angestellt wurden, und wie wichtig entsprechend die aufklärenden Jahre der Studentenbewegung 1968 gewesen seien.

„Lit.Ruhr“ für Kinder und Jugendliche

Das Literaturfestival „Lit.Ruhr“ findet noch bis 10. Oktober statt. 30 der 54 geplanten Veranstaltungen richten sich an Kinder, Jugendliche und Familien. Namhafte Autoren kommen in diesen Tagen an Schulen und Kindergärten des Ruhrgebiets, um dort ihre Werke vorzustellen und mit den jungen Zuhörerinnen und Zuhörern ins Gespräch zu kommen.Prominentestes Gesicht der „Lit.Ruhr“ für Kinder und Jugendliche: Schauspielerin und Komödiantin Anke Engelke gastiert am Samstag, 9. Oktober, auf Zollverein – dann geht es um Ergebnisse eines Schreibwettbewerbs für Schülerinnen und Schüler, zu dem die „Lit.Ruhr“ eingeladen hat. Ab 16 Uhr, Halle 5, Tickets vor Ort.

Betroffene Stille im Gymnasium Essen-Überruhr nach dem Ende einer Lese-Passage

Als Kirsten Boie eine dritte Passage ihrer Erzählung zu Ende gelesen hat, darin geht es um Exekutionskommandos und durchaus anschauliche Berichte der Erschießungen und Erhängungen, ist nur noch betroffene Stille im Saal. Kirsten Boie spannt den Bogen zur Gegenwart, spricht von der „phänomenal starken Demokratie“, die wir heute hätten in Deutschland, „auch wenn es Kräfte gibt, die das ändern wollen.“ Und mit Blick auf Deutschlands Osten, in dem auch bei jungen Wählern vielerorts die AfD stärkste Kraft geworden ist, warnt sie: Wer sich heute in die Nähe rechten Gedankenguts stelle, „der hat keine Vorstellung davon, was das in letzter Konsequenz bedeutet.“