Bochum. Am 28. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, ereignete sich eine Mordnacht. Kirsten Boie und andere Jugendbuchautoren erinnern an Nazi-Taten.
Wie wichtig Jugendbücher wie das von Andrea Behnke sind, zeigt diese Schlagzeile: „Bochum: Unbekannter schießt auf Synagoge“. Diese Worte beschreiben nicht die Tragödie von der Reichspogromnacht am 9. November 1938, als die Nazis auch im Ruhrgebiet wüteten. Sie benennen eine Tat, die erst wenige Tage alt ist.
Es ist noch nicht bewiesen, aus welchem Motiv heraus der Täter in der Nacht zum Montag handelte – zum Glück wurde niemand verletzt. Aber dass der Anschlag wieder einem jüdischen Gotteshaus galt, das steht fest. Und dass Menschen auch heute allein aufgrund ihrer Religion oder ihrer kulturellen Herkunft zum Sündenbock gemacht werden. Wie sich das anfühlt, nicht gewollt zu sein und verantwortlich gemacht zu werden für Dinge, für die man nichts kann, das zeigt die Bochumerin Andrea Behnke in ihrem neuen Roman: „Die Verknöpften“.
Die kleine Liselotte und ihre Freunde spüren 1938, wie sich die Welt um sie verändert: Leon wird von älteren Jungen gequält, nur weil er Jude ist. Hildegard darf nicht mehr mit ihnen spielen, weil es für sie zu gefährlich ist, mit Juden gesehen zu werden. Freundschaftsbänder sollen die Kinder für immer miteinander verbinden, auch wenn andere „Die Verknöpften“ trennen wollen. Aber der Hass hat kein Ende: Der Stoffladen von Liselottes Eltern wird zerstört – nur weil sie Juden sind. Eine Lehrerin bleibt eine Stütze für die Kinder, für die Gemeinde: eine zierliche Frau, die anderen die Stirn bietet.
Die Kinder des Romans stehen für das Schicksal der Mädchen und Jungen, die in Nazideutschland gelebt haben. Aber andere Personen wie die Lehrerin gab es wirklich: Else Hirsch unterrichtete an der jüdischen Schule in Bochum, die ebenfalls zerstört wurde, schreibt Andrea Behnke im Nachwort. Die Lehrerin unterstützte eine Hilfsorganisation, die jüdische Kinder ohne ihre Eltern zur Rettung nach Großbritannien verschiffte. Sie selbst wurde ins Ghetto Riga verschleppt, wo sie vermutlich 1943 umkam.
Ein warmherziges Buch über ein hartes Thema
So hart das Thema ist: Andrea Behnke hat ein warmherziges Buch geschrieben. Sie findet treffende Worte für die Verzweiflung der Kinder, die solche Ungerechtigkeiten nicht fassen können; sie erzeugt Mitgefühl, ohne zu verängstigen. Schon sehr junge Zuhörer oder Selbstleser spüren, wie es Kindern wie Liselotte erging und wohin willkürliche Vorverurteilungen führen. Zudem zeigt sie, dass der Schrecken vor der eigenen Haustür verbreitet wurde. Sie lässt Liselotte sagen, während das Mädchen nachdenklich auf die Ruhr blickt: „Es gibt oft zwei Wege. Einer ist richtig und einer ist falsch. Manchmal weiß man nur nicht, welcher was ist.“
Die Mordnacht von Penzberg
„Wozu, im Guten wie im Schlechten, sind ganz und gar durchschnittliche Menschen fähig?“ Diese Frage trieb Kirsten Boieschon länger um, besonders in Bezug auf die Shoah, wie sie im Nachwort zu ihrer neuen Novelle „Dunkelnacht“ schreibt. In dem kleinen Ort Penzberg in Bayern fand sie Antworten.
Es ist der 28. April 1945: Über den Volksempfänger spricht nicht Hitler, sondern „Die Freiheitsaktion Bayern“: „Die Alliierten stehen vor den Toren der Städte“. Mutige Menschen, darunter der ehemalige Bürgermeister, versuchen friedlich die Macht zu übernehmen und so zu verhindern, dass der „Nero-Befehl“ der Nationalsozialisten umgesetzt wird. Nach dem Willen des Führers soll nichts in die Hände des Feindes fallen, alles zerstört und das Bergwerk, die Lebensader der Stadt, geflutet werden. Die wenigen Soldaten vor Ort verurteilen den Bürgermeister und seine Mitstreiter ohne Prozess. Sie werden erschossen.
Es ist erst der Anfang von vielen weiteren Morden in einer einzigen Nacht…
Nicht nur „Der kleine Ritter Trenk“ oder „Wir Kinder aus dem Möwenweg“
Die beliebte Kinderbuchautorin Kirsten Boie schreibt nicht nur Unterhaltung wie „Der kleine Ritter Trenk“ oder „Wir Kinder aus dem Möwenweg“. Immer wieder erinnert die Hamburgerin an Themen, denen das Vergessen droht – damit auch heute Entscheidungen getroffen werden, die vorsichtig und menschlich sind. Sie selbst war erschüttert, wie wenig von den brutalen Morden kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Penzberg bekannt ist.
Die Geschichte wirkt wie ein Sog. Boie erzählt aus der Sicht von Jugendlichen, mit denen sich junge Leser schnell identifizieren. Die 14-jährige Marie und ihre Freunde hat sie dafür erfunden, aber die vielen Menschen, die teils von Nachbarn gehenkt wurden, nachdem willkürlich eine Namensliste von Verrätern erstellt wurde, haben wirklich gelebt. Kirsten Boie schreibt: „Der Strick ist längst am Balkon festgemacht, auch schon der zweite, nun legen sie ihm die Schlinge um den Hals. Wer ihn stößt, wird man später nicht mehr wissen. Wie man keinen von denen kennen wird, die es getan haben, die ganze Nacht.“
Kirsten Boie zeigt, wie solch eine Tragödie überhaupt erst entsteht. Aus einer falsch verstandenen Vaterlandsliebe: „Ein guter Deutscher erfüllt immer seine Pflicht.“ Oder weil man die eigene Verantwortung von sich schiebt: „Nun hat er ja seinen Befehl, nun steht fest, was zu tun ist.“ Oder weil Menschen aus Feigheit wegsehen: „Ich halt mich raus.“
Der Mut der Sophie Scholl zum Widerstand
Am 9. Mai vor 100 Jahren kam Sophie Scholl zur Welt. Als junge Frau bat sie ihren Freund Fritz Hartnagel um Geld für ein „Vervielfältigungsgerät“. Da soll er sie gefragt haben: „Bist du dir im Klaren, dass dies dich den Kopf kosten kann?“ Sie soll mit fester Stimme geantwortet haben: „Ja, darüber bin ich mir im Klaren.“
„Einer muss doch anfangen!“ heißt eine neue Biografie, die sich auf Sophies Leben und weniger auf das ihres Bruders Hans Scholl konzentriert. Wie lang der Weg war, bevor sie mutig an den Flugblättern der Studentengruppe „Weiße Rose“ in München mitwirkte, um die Menschen in Deutschland vor den Nationalsozialisten zu warnen, schildert Werner Milstein.
Der Religionslehrer am Berufskolleg in Olsberg im Sauerland hat Bücher über die junge Frau gelesen, ihre Briefe und ihr Tagebuch studiert. Viele Details hat er zusammengetragen, die sich nicht wie ein Roman lesen, aber erkennen lassen, wie aus einer anfangs begeisterten Hitleranhängerin, die gar die Verbrennung von Büchern genoss – „Wie lustig das Feuer prasselte“ – schließlich eine Widerstandskämpferin wurde, die andere wachrüttelte. Am 22. Februar 1943 wurde Sophie Scholl hingerichtet. Sie wurde nur 21 Jahre alt.