Essen. Bundespräsident Steinmeier besucht in Essen eine Schau über türkische Einwanderer und sagt danach: „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.“

Wenn Besuch aus Berlin nach Essen kommt, geht es meist um Bergbau-Folklore und Strukturwandel. Das gilt ganz besonders für Termine auf Zollverein, vormals Zeche, heute Welterbe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat an diesem Dienstag (28. September) eine andere Agenda: Zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens reist er durchs Ruhrgebiet, weil bundesweit „keine Region so von Zuwanderung geprägt ist“.

Begrüßung in Essen zwischen Rolltreppe und Doppelbock

Essen ist Zwischenstation auf Steinmeiers Weg von Mülheim (Friedrich Wilhelms-Hütte Stahlguss) nach Bochum (deutsch-türkischer Sportverein Türkiyemspor) und bietet mit der Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ eine so sinnfällige wie bildgewaltige Kulisse für eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Protokollarisch begrüßt wird Steinmeier am Fuße der spektakulären Rolltreppe von Oberbürgermeister Thomas Kufen; die Sonne scheint, der Doppelbock strahlt. „Und hinterher gibt’s noch was zu essen“, verrät der OB.

Vorher schauen sie sich im Ruhr-Museum die 120 Bilder des renommierten türkischen Fotografen Ergun Çağatay (1937-2018) an, der im Jahr 1990 Einwanderer der ersten und zweiten Generation in Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg besuchte und tausende Aufnahmen machte, aus Arbeitswelt und Privatleben.

Bundesrepublik warb um Arbeitskräfte aus der Türkei

Vor seinem Besuch im Ruhr-Museum war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstagmorgen in der Friedrich Wilhelms-Hütte Stahlguss Mülheim zu Gast. Von Essen aus fuhr er weiter zum Deutsch-Türkischen Sportverein Türkiyemspor in Bochum. Anlass seines Besuchs war der 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, das im Oktober 1961 geschlossen wurde. Die Bundesrepublik hatte seit den 1950er Jahren mit verschiedenen Ländern – etwa mit Italien und Griechenland – ähnliche Abkommen geschlossen, weil die heimischen Arbeitskräfte nicht ausreichten. Ende 1973 kam dann der Anwerbestopp. Zu diesem Zeitpunkt lebten von bundesweit etwa vier Millionen „Gastarbeitern“ fast ein Drittel in Nordrhein-Westfalen.

Da ist etwa Osman Cinkılıç als junger Mann mit seiner Familie zu sehen: hinter sich eine holzvertäfelte Wand, vor sich türkischen Tee. Drei Jahrzehnte später steht er, inzwischen 65 Jahre alt, im Ruhr-Museum und freut sich, „dass der Bundespräsident sich mit mir unterhalten möchte“. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender werden hören, dass Cinkılıç 1972 nach Deutschland kam, ganz allein, 16 Jahre alt. „Manche von uns hatten sehr großes Heimweh. Wir kamen gerade von der Schule und sollten in den Bergbau.“ Einige seien gleich wieder in die Türkei zurückgekehrt.

Bundespräsident zitiert Max Frisch

Ruhr-Museum Essen: Osman Cinkılıç (r.) vor einem Familienbild von 1990. Im Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau Elke Büdenbender erzählte er, wie er vor fast 50 Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam.
Ruhr-Museum Essen: Osman Cinkılıç (r.) vor einem Familienbild von 1990. Im Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau Elke Büdenbender erzählte er, wie er vor fast 50 Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Cinkılıç blieb, arbeitete bis 2005 unter Tage, 33 Jahre lang. Er lebte zuerst in Duisburg, zog später an den Niederrhein und sagt heute: „Ich fühle mich hier zu Hause.“ Dass die „Gastarbeiter“ hierzulande heimisch werden könnten, hatte die Politik seinerzeit bekanntlich nicht bedacht. Der Bundespräsident zitiert dazu den Schriftsteller Max Frisch, der diesen Zwiespalt schon 1965 in ein Bonmot goss: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen.” Wenn er nun an das Anwerbeabkommen erinnere, wolle er vor allem diese Menschen würdigen, sagt Steinmeier, und er freue sich, das im Ruhrgebiet zu tun, wo ein großer Teil von ihnen Arbeit fand. „Menschen, die ihren Beitrag geleistet haben, dass es bei uns wirtschaftlich bergauf ging.“

In der Ausstellung, durch die der Bundespräsident und seine Begleiter von Museumsdirektor Theodor Grütter geführt werden, gebe es erfreulicherweise viele Bilder aus der Arbeitswelt, die Steinmeier als den entscheidenden Integrationsfaktor benennt. Ohne zu verschweigen, dass die Arbeitsbedingungen oft alles andere als erfreulich waren. Gefragt, was man lernen könne aus der Geschichte des Anwerbeabkommens, betont Steinmeier zunächst, „dass wir nichts schönzureden haben“. Und: „Dass wir uns schwergetan haben, die Tatsachen anzuerkennen.“ Etwa jene, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland ist und auch heute ausländische Fachkräfte braucht. „Wir sollten nicht mehr so sehr über Menschen mit Migrationshintergrund reden“, findet Steinmeier. „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.“